Kolumne:Ein Rätsel

Lesezeit: 4 min

In internationalen Ranglisten landen Österreich und seine Hauptstadt entweder ganz oben oder ganz unten. Das ist kein Wunder, die Nation ist eben extrem widersprüchlich.

Von Karl-Markus Gauß

Jetzt kenne ich mich nicht mehr aus. Als standhafter Kritiker von Rankings jeder Art, der aber auch nicht anders kann, als diese trotzdem zu lesen, egal was sie gerade an Wichtigem oder Blödem klassifizieren, stehe ich vor einem Rätsel. Die Agentur Mercer veröffentlicht jedes Jahr eine Rangordnung, mit der die Lebensqualität von rund 240 Großstädten weltweit bewertet wird. Mercer bezieht sich dabei auf Daten, die objektiv erhoben werden, und auf die subjektive Einschätzung von Bewohnern wie Besuchern, die sich immerhin quantifizieren lassen. Objektiv fassen kann man etwa die Wahrscheinlichkeit, in einer Stadt einem Verbrechen zum Opfer zu fallen, wie auch die Quote, welche die Polizei bei der Aufklärung erreicht. Das muss nicht unbedingt zum subjektiven Gefühl von Sicherheit oder Bedrohung der Menschen passen, die dort Urlaub machen oder ihr ganzes Leben verbringen. Objektiv zu eruieren ist auch, wie lange jemand warten und wie viel Geld er bei sich haben muss, wenn er wegen einer akuten Kolik ein Krankenhaus aufsucht, subjektiv ist dagegen, ob sich der Patient dort auch freundlich aufgenommen fühlt.

Was man früher nur von Krakeelern hörte, ist heute Teil des Repertoires honoriger Leute

Im Juli 2017 hat die Agentur an die Spitze aller Städte Wien gesetzt, und das zum sensationellen siebten Mal in Folge.

Nun aber, zwei Monate später, kam es knüppeldick für die Österreicher, und zwar in der Studie eines Instituts namens Expat Insider. Weil ich es vorher selbst nicht wusste, füge ich an, dass mit Expats - eigentlich Expatriés - jene Fach- und Spitzenkräfte gemeint sind, die in Diensten internationaler Unternehmen und Organisationen für ein paar Jahre ins Ausland geschickt werden. Expat Insider hat circa 13 000 dieser hochqualifizierten Arbeitsmigranten auf Zeit befragt, wie es mit der "Freundlichkeit" in den Ländern steht, in die sie ihre berufliche Wanderschaft führte. Und siehe da, Österreich gilt, was diese für einen geglückten Aufenthalt nicht ganz unwichtige Angelegenheit betrifft, als dermaßen unfreundlich, dass es den vorletzten von 65 Plätzen belegt und es in Sachen mangelnder Freundlichkeit einzig gegenüber Kuwait das Nachsehen hat.

Solch widersprüchliche Bewertungen werfen Fragen auf. War die eine Agentur vom Wiener Tourismusverband bestochen, hat die andere statt auf statistisches Material auf antiösterreichische Ressentiments gesetzt? Oder sollte die überragende Lebensqualität von Wien womöglich gar damit zusammenhängen, dass das Land ringsum saugrob geworden ist? Ja, geworden ist, denn in früheren Jahren errangen die Österreicher bei Expat Insider weit bessere Sympathiewerte. Nun weiß man, dass Rankings, wie sie heute in Permanenz für alles Mögliche erstellt werden, eine fragwürdige Sache sind. Die Rangliste von Expat Insider besticht zum Beispiel damit, dass die Krone der Freundlichkeit tatsächlich Bahrain zugesprochen wurde, einem herzensgut regierten Staat, in dem Ärzte, die verletzte Demonstranten behandeln, aus dem Krankenhaus weg verhaftet werden und für Jahre in Gefängnissen verschwinden. Mancher Expat, für den die Welt in Ordnung ist, wenn er nur selbst angenehme Arbeitsbedingungen vorfindet, wird das vielleicht nicht wissen, oder wissen wollen, weil er sich sein Bahrainer Wohlgefühl nicht trüben lassen möchte.

Wie auch immer, als Österreicher frage ich mich, was es nun mit meiner Hauptstadt und meinem Land auf sich hat? Dass wir wieder einmal entweder die Besten oder die Miesesten sind, schiene ja darauf hinzudeuten, dass beide Studien von Österreich selbst in Auftrag gegeben wurden, sind wir doch darauf versessen, unser Land entweder zu verklären oder zu verdammen, es entweder für den unerkannten Weltmeister von allem oder die Vorhölle auf Erden zu halten. Wenn Ausländer uns das eine wie das andere absprechen und Österreich zum ganz normalen Land erklären, in dem es nicht fortwährend nur urösterreichisch, also unvergleichlich gemütlich oder unüberbietbar hinterhältig zugeht, dann schätzen wir das gar nicht. Dazu passt, dass weder das hohe Lob noch die dramatische Kritik der beiden Rankings in Österreich großes Aufsehen erregte. Zugegeben, die Bewertung von Mercer hat die FPÖ empört, weil sie für die nächste Gemeinderatswahl zum Sturm auf Wien aufgerufen hat und propagandistisch den totalen Verfall dieser Stadt verkündet: Wien, wie die Freiheitlichen es anprangern, ist zum Tummelplatz von kriminellen Asylanten und heimischen Korruptionisten verkommen, die sich einträchtig die Beute teilen, den Wohlstand der alteingesessenen Wiener. Aber außer der patriotischen FPÖ, die es seltsamerweise stört, wenn ihre Heimat geschätzt wird, haben die so widerstreitenden Beurteilungen Österreichs niemanden aufgeregt.

Vielleicht ist ja, paradox genug, an beiden Rankings etwas dran. Wien ist, trotz mancher Schwierigkeiten, die sozialen Errungenschaften von Generationen zu sichern, noch immer eine ausgezeichnet verwaltete Stadt, in der sich gut leben lässt, und nicht nur, wenn man über hohes Einkommen verfügt. Und in Wien samt Österreich drum herum sind andererseits die Sitten tatsächlich rauer geworden, der Ton, der auf den Bühnen des Alltags und des öffentlichen Raumes angeschlagen wird, ist oft gehässig, und die Stimmung auf der Straße, in der U-Bahn, im Parlament kann jäh in Unmut kippen. Was man früher spätnachts am Würstlstand von betrunkenen Krakeelern zu hören bekam, das gehört heute zum rhetorischen Repertoire honoriger Leute - vor allem, wenn es um die Ausländer geht, das Lieblingsthema einer Nation, die sich einst aus dem Zuzug von Menschen aus allen Teilen der Monarchie gebildet hat. Dass alle Probleme immer wieder mit nichts als "den Fremden" erklärt werden, gleich ob es sich um Zuwanderer aus der EU, anerkannte Flüchtlinge oder abgewiesene Asylbewerber handelt, ist längst keine Domäne der politischen Rechten mehr, sondern ein weit verbreitetes Phänomen. Das bekommen jetzt atmosphärisch sogar jene zu spüren, um die früher gebuhlt wurde, die internationalen Spitzenkräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft.

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: