Israelis und Palästinenser:Am Knotenpunkt des Terrors

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Mit Soldaten, Betonsperren und Wachtürmen versucht Israels Regierung für Sicherheit vor palästinensischen Spontanattentätern zu sorgen. (Foto: Ronen Zvulun/Reuters)

Eine Kreuzung im Westjordanland wird zum Epizentrum spontaner Attentate palästinensischer Jugendlicher. Neue Sicherheitsmaßnahmen gefährden nun auch ein jüdisch-arabisches Kooperationsprojekt.

Von Peter Münch, Gusch Etzion

Es herrscht mal wieder Stau in alle Richtungen, Stoßstange an Stoßstange schieben sich die Autos durch den Kreisverkehr. Eine ordnende Hand wäre nicht schlecht, ein Verkehrspolizist mit Übersicht. Doch zu sehen sind nur Soldaten mit schwarzer Sturmmaske und der Waffe im Anschlag. Postiert sind sie an jeder Ecke, auch von einem Wachturm aus überblicken sie das Geschehen und an einer Haltestelle flankieren gleich drei Schwerbewaffnete ein junges Mädchen, das auf den Bus wartet. Statt Bäumen wachsen hier Flutlichtmasten aus dem Boden, gekrönt von Kameras - die "Gusch-Etzion-Kreuzung" ist ein Hochsicherheitsgelände.

"Manche nennen das hier schon die Kreuzung des Todes", sagt Oberstleutnant Colonel Peter Lerner und zupft seine olivgrüne Uniform zurecht. Auf halber Strecke zwischen Jerusalem und Hebron liegt dieser Kreisverkehr, mitten im Westjordanland, das viele Israelis der Bibel gemäß Judäa und Samaria nennen. Hier in der Gegend mischen sich palästinensische Dörfer und mehr als 20 israelische Siedlungen, die sich zum "Gusch-Etzion-Block" zusammengeschlossen haben. Die Kreuzung ist ein Verkehrsknotenpunkt und Anhalter-Treff. Nun aber ist sie zum Epizentrum der Anschlagsserie geworden, die Israel seit Anfang Oktober erschüttert.

Nirgends ist die Gewalt so heimisch geworden wie an dieser Kreuzung

Gewiss, die meist jugendlichen palästinensischen Attentäter schlagen und stechen überall im Land zu: in Jerusalem und Tel Aviv, in Beerschewa und Netanja. An die hundert Angriffe haben die Sicherheitskräfte seit Anfang Oktober bereits verzeichnet, 17 Israelis kamen dabei ums Leben, etwa 200 wurden verletzt. Auf palästinensischer Seite starben mindestens 95 Menschen. Fast 60 von ihnen sind erschossene Attentäter, die anderen wurden bei Unruhen getötet.

Manchmal passiert drei Tage lang nichts, manchmal gibt es drei Attacken an einem Tag. Überall also wachsen Angst und Unsicherheit. Doch nirgends ist die Gewalt so heimisch geworden wie an dieser Kreuzung, nirgendwo sonst ist so viel passiert.

"Wir haben hier alles schon gehabt", sagt Oberstleutnant Lerner, der als Sprecher der israelischen Armee in diesen Zeiten von einem Brennpunkt zum nächsten hastet. Auf seiner Liste für die Gusch-Etzion-Kreuzung stehen vier Messerangriffe, sechs Attacken, bei denen Autos in eine Menschenmenge gesteuert wurden und ein Angriff mit Schusswaffen. Vier Terror-Tote hat es hier allein in den vergangenen zehn Tagen gegeben. "Unsere Aufgabe ist es, die Anschläge einzudämmen", sagt Lerner, "doch das ist eine gewaltige Herausforderung."

"Der Terror hat keine Infrastruktur"

Die Regierung in Jerusalem versucht es, mit aller Kraft. Überall im Land zeigen Armee und Polizei Präsenz, bei Razzien wurden Hunderte Palästinenser verhaftet, und Premierminister Benjamin Netanjahu hat seine Landsleute darauf eingeschworen, dass dieser Kampf "Geduld, Mut und Hartnäckigkeit" erfordere.

Doch mit den alten Rezepten ist der neuen Gewalt nicht beizukommen. "Der Terror, den wir in den vergangenen Wochen gesehen haben, hat keine Infrastruktur", erklärt Lerner. Die Angreifer entschieden sich meist spontan zur Tat. Sie seien deshalb vom Radar der Geheimdienste schwer zu erfassen. Lerners Prognose ist düster: "Das ist nichts, was morgen aufhört", sagt er, "wir müssen uns darauf einstellen, dass es sich noch verschlimmert."

Den Siedlern in Gusch Etzion aber braucht er mit solchen Prophezeiungen nicht mehr zu kommen. Bei vielen ist die Angst längst in Wut umgeschlagen. Nahe der Kreuzung kann man einen jungen Mann treffen mit Jeans und T-Shirt, der eine Pistole im Halfter trägt. Er bekennt gern, dass er "jeden Angreifer töten" würde, "sofort". Vor ein paar Tagen hatten sich Hunderte Demonstranten mitten auf dem Kreisverkehr versammelt, um ihren Unmut über Regierung und Armee kundzutun. "Stoppt den Terror jetzt", stand auf den Plakaten, und an die Spitze der Bewegung hat sich sogleich Davidi Perl gestellt, der Vorsitzende des Regionalrats von Gusch Etzion.

Der schmächtige Mann mit Brille und Kippa steht nun am Rande des Kreisverkehrs, bündelt die Wut der Bürger. "Diese Kreuzung ist wie unser Wohnzimmer", ruft er, "das ist wie die Plaza de Catalunya in Barcelona." Der Vergleich ist gewagt angesichts der Ödnis ringsherum - doch Perl will die Dringlichkeit unterstreichen, mit der hier für Sicherheit gesorgt werden müsse: "Das ist doch ein Dschungel hier."

Er sieht seine Siedlungen umzingelt von "Tausenden Terroristen". Fast jeder Palästinenser ist ihm verdächtig, "sie werden doch von ihren Führern dazu aufgehetzt, Juden zu töten". Perl verlangt von seiner Regierung eine einschneidende Maßnahme: "Der israelische Staat sollte ganz Judäa und Samaria annektieren, so, wie wir es auf dem Golan gemacht haben", fordert er. "Wir müssen stark genug sein, um den Arabern zu sagen: Wenn ihr hier leben wollt, dann verhaltet euch ruhig."

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Eine neue Straße soll helfen

In der Regierung und im Parlament sitzen einige, die eine solche Forderung unterstützen. Doch bei der Lösung des Problems, den Anschlägen, hilft das nicht. Als einen ersten Schritt zur Verbesserung der Lage kann Perl nun immerhin auf eine neue Straße hoffen, die gerade jenseits des Kreisverkehrs gebaut wird. Auf diese Umgehungsroute sollen die palästinensischen Autos mit den grünen Nummernschildern umgeleitet werden. Die Gusch-Etzion-Kreuzung wäre den Siedlern mit den gelben Kennzeichen vorbehalten.

Die Trennung, für die Perl nach Kräften wirbt, könnte dann aber auch ein Vorzeigeprojekt beenden, das vor ein paar Jahren nahe dieser Kreuzung initiiert wurde. In einem kleinen Gewerbegebiet steht der "Rami Levi Supermarkt" mit seinen fast endlos langen Regalreihen. "Wir machen hier in Ko-Existenz", sagt der Manager Eli Scharon. Von durchschnittlich 2000 Kunden berichtet er am Tag - "die Hälfte sind Juden, die Hälfte Palästinenser". Auch die 120-köpfige Belegschaft ist gemischt - "fifty-fifty", sagt Sharon. "Das klappt ohne Probleme, aber wir erlauben es auch nicht, dass über Politik geredet wird, wir wollen den Konflikt nicht hier drin haben."

Ganz draußen lassen können sie ihn nicht: Die Kundenstruktur hat sich verändert in den vergangenen Wochen, die Palästinenser bleiben weg wegen der Checkpoints, an denen sie nun kontrolliert werden. Die arabischen Arbeiter sind zwar noch da. In den Siedlungen werden aber Rufe laut, aus Sicherheitsgründen keine Palästinenser mehr zu beschäftigen. Marwan Zawahra hofft, dass es dazu nicht kommt. Der 28-Jährige stammt aus Bethlehem, seit gut einem Jahr ist er im Supermarkt beschäftigt. "Vorher habe ich im Tourismus gearbeitet", sagt er, "aber seit dem Gazakrieg kommt kaum noch einer."

Seit ein paar Wochen muss er nun jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit die verschärften Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen, alles wird durchsucht, er wird am ganzen Körper abgetastet. "Ich verstehe das ja", meint er, "aber manchmal habe ich das Gefühl, es ist zu viel." Nach all den Angriffen kann er die Furcht der Siedler von Gusch Etzion nachvollziehen. Aber auch er hat Angst. "Ich könnte erschossen werden, wenn irgendwo ein Anschlag passiert und die Soldaten mich für einen Terroristen halten, weil ich Palästinenser bin", erklärt er. "Oder ich könnte sterben, weil irgendein Attentäter denkt, ich bin ein Jude, weil ich hier arbeite."

© SZ vom 30.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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