Humanitäre Tragödie in Syrien:Vergebliches Hoffen auf das libysche Modell

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Syriens große Bedeutung für die Stabilität im Nahen Osten ist für das Land eine Tragödie: Die Opposition fühlt sich durch die folgenlose Drohkulisse von UN, Nato und Arabischer Liga hingehalten. Viele hofften auf das libysche Modell, doch der Aufstand gegen Assad ist ein Flickenteppich. Eine Flugverbotszone oder ein humanitärer Korridor würde einen Bodeneinsatz nach sich ziehen - ein Albtraum für den Westen.

von Sonja Zekri

Die Lage in Syrien ist furchtbar, unerträglich. Ein Fünfzehnjähriger wird vor den Augen seines Vaters vergewaltigt. Schergen des Regimes missbrauchen einen Elfjährigen. 5000 Zivilisten starben seit Beginn des Aufruhrs, unter ihnen 300 Kinder, berichtet die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Der Internationale Strafgerichtshof müsse angerufen werden. Syrien taumelt einem Bürgerkrieg entgegen. Kann die Welt das mitansehen?

Sie kann. Vorerst. Gewiss, die Rhetorik wird schärfer, mit jeder Woche. Frankreich fordert einen humanitären Korridor, der nötigenfalls militärisch geschützt werden müsse. Die Türkei - Zuflucht für syrische Deserteure und Aktivisten, Transitland für Waffen und Geld Richtung Aufstand - soll Medienberichten zufolge eine Pufferzone im syrischen Grenzgebiet ventilieren, Flugverbot inklusive: 100 Jahre nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches würden sich damit wieder türkische Truppen auf arabisches Gebiet wagen. Die Arabische Liga hat Syrien, stolzes Gründungsmitglied, ausgestoßen, hat Sanktionen verhängt, droht mit Schlimmerem. Brüssel, Washington, selbst der jordanische König Abdallah fordern den Rücktritt von Präsident Baschar al-Assad. Aber sonst?

Ein syrischer "Bengasi-Moment" ist nicht ausgeschlossen, die drohende Vernichtung einer ganzen Stadt, die ein internationales Eingreifen erzwingen würde wie einst im Osten Libyens. Sollte Assad tatsächlich zu einer Offensive gegen das aufrührerische Homs ansetzen, könnte dieser Fall eintreten. Bis dahin aber fühlen sich viele Syrer, zermürbt durch Monate des Protestierens und Sterbens, durch die folgenlose Drohkulisse nur hingehalten.

Nach dem Sturz Gaddafis hatten einige auf das libysche Modell gehofft. Aber anders als in Libyen kontrollieren Syriens Aufständische weder ein eigenes Gebiet, noch wird ihr Nationalrat international anerkannt. Und: Je beunruhigender die Nachrichten aus Libyen werden - über die verschleppte Entwaffnung, die Schießereien marodierender Milizen, die Misshandlung von Gaddafi-Getreuen -, desto geringer ist das Bedürfnis der UN, der Nato, der Arabischen Liga nach einem neuen Waffengang.

Aber es hätte weder der Enttäuschung über den verstolperten libyschen Neustart noch der russischen Frustration über eine Überdehnung des UN-Mandates bedurft, um Syrien vor der libyschen Variante zu bewahren. Anders als der geometrische Frontverlauf in Libyen ist der syrische Aufstand ein Flickenteppich. Eine Flugverbotszone oder auch ein humanitärer Korridor würden den Einsatz von Bodentruppen nach sich ziehen - ein Albtraum für den Westen.

Der Hass unter Syriens Konfessionen, vom Regime gezielt geschürt, entlädt sich mancherorts inzwischen in Morden und Entführungen. Alawiten, die schiitischstämmige Sekte der Assads, aber auch viele Christen fürchten Vergeltung. Bislang haben die Aufständischen, meist Sunniten, ihnen diese Angst nicht nehmen können. Geschäftsleute ahnen Anarchie und Zersetzung und zögern, auf die Seite des Protests zu wechseln. Sie wissen: Bis Baschars Vater Hafis al-Assad 1970 alle Konflikte niederrang, war Syrien der putschreichste Staat im Nahen Osten.

Und: Nach Jahrzehnten filigraner Allianzpolitik ist Syrien der Schlussstein in der Architektur des Nahen Ostens, den niemand ohne Not zerstört. Für Präsident Assad ist das ein Glück, für sein Land aber eine Tragödie. Assads größte Kontrahenten in der Region sind nicht die postrevolutionären Staaten Ägypten oder Tunesien, die im Kampf gegen den Tyrannen in Damaskus ihre eigene Revolte wiedererkennen. An die Spitze der Assad-Gegner setzten sich zwei steinreiche, demokratieferne Monarchien: Katar, Waffenbruder im libyschen Nato-Einsatz, und Saudi-Arabien, das dem kleinen Nachbarkönigreich Bahrain bei der Niederschlagung eines schiitischen Aufstandes half.

Während im politisch vormodernen Saudi-Arabien soeben eine Frau als "Hexe" hingerichtet wurde, geißeln der saudische Sender al-Arabija und Katars al-Dschasira in mehrstündigen Sendungen die Verletzung der Menschenrechte in Syrien. Für die Golfstaaten - erzkonservativ, islamistisch, politisch ambitioniert - bricht nach dem arabischen Frühling der goldene Herbst an: In Ägypten und Tunesien hat der demokratische Prozess die Islamisten nach oben gespült. Nun bietet sich in Syrien die einmalige Gelegenheit, den schiitischen Erzrivalen Iran zu schwächen - über seinen arabischen Verbündeten. Je weiter das iranische Nuklearprogramm fortschreitet, desto attraktiver wird dies auch für Washington.

Gewiss: Der syrische Aufstand ist - entgegen offizieller Propaganda aus Damaskus - keine internationale Verschwörung, sondern eine genuin syrische Reaktion auf eine genuin syrische Gewaltherrschaft. Aber er trägt die Entgrenzung in sich. Aus dem benachbarten Libanon, wo die Assad-treue Schiitenmiliz Hisbollah herrscht, werden neuerdings wieder Raketen auf Israel abgeschossen und Anschläge auf französische Blauhelme verübt. Paris sieht Syrien als Drahtzieher. Jede Intervention in Syrien trifft die ganze Region.

© SZ vom 14.12.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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