Hitlerjugend in England:"Spyclists" - Spione auf Fahrrädern

Lesezeit: 2 min

Neu veröffentlichte Akten des britischen Geheimdiensts enthüllen, wie die Hitlerjugend versucht hat, britische Pfadfinder zu unterwandern.

Wolfgang Koydl

Beide Organisationen steckten ihre Mitglieder in kurze Hosen und schlangen ihnen Tücher um den Hals. Außerdem erfreuten sich Zeltlager in abgelegener Bergwelt bei beiden großer Beliebtheit. Doch damit erschöpften sich bereits die Übereinstimmungen zwischen der britischen Pfadfinderbewegung auf der einen und der nazistischen Hitlerjugend auf der anderen Seite.

Dennoch versuchte das nationalsozialistische Deutschland eine Zeitlang, organisatorische und freundschaftliche Bande zu den Wandervögeln auf den britischen Inseln zu knüpfen.

Treffen mit Hitler in Aussicht gestellt

Wie aus vertraulichen Akten des Inlandsgeheimdienstes MI5 hervorgeht, die nun erstmals veröffentlicht wurden, ordnete Berlin eine regelrechte Charme-Offensive an, mit der Robert Baden-Powell, der greise Gründer der Boy Scouts, für das Projekt gewonnen werden sollte.

Demnach versprach der damalige deutsche Botschafter in London und spätere Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop Baden-Powell am Rande eines Empfanges in London im November 1937 ein persönliches Treffen mit Adolf Hitler. Zuvor hatte Hartmann Lauterbacher, der sogenannte Obergebietsführer der HJ, England besucht.

Der Pfadfinder-Führer fühlte sich offenbar geschmeichelt. Höflich bedankte er sich für die "freundliche Unterredung, die meine Augen geöffnet hat für das Gefühl, das Ihr Land Großbritannien entgegenbringt und das sich genau deckt mit dem Gefühl, das ich für Deutschland habe".

In einem Rundschreiben an die Führer seiner Organisation schwärmte Baden-Powell von dem deutschen Botschafter als einem "charmanten Mann, der viele Verwandte in England" habe. "In Indien habe ich seinen Onkel gekannt", fügte der alte Herr hinzu, als ob damit alle Zweifel an Ribbentrop und seinen Avancen ausgeräumt wären.

Kundschafter auf dem Fahrrad

Zu einer Zusammenarbeit kam es dann jedoch nicht, weil die britische Regierung dies strikt ablehnte. "Die Hitlerjugend ist keine Pfadfinderorganisation", hieß es in einem vertraulichen Dokument der beiden Geheimdienste MI5 und MI6. "Es ist eine Zwangsformation der Nazis, die ganz bewusst Hass, Verrat und Grausamkeit in Geist und Seele eines jeden deutschen Kindes zu säen versucht. Dies ist, im Wortsinne, eine "Erziehung für den Tod".

Vor allem aber hatte der Geheimdienst nach einem angeblich in der Zeitschrift Der deutsche Radfahrer veröffentlichten Artikel Verdacht geschöpft. Darin waren junge Deutsche, die Radtouren auf den Inseln unternahmen, aufgefordert worden, Augen und Ohren offen zu halten, weil die so gewonnenen Kenntnisse "einmal zum Nutzen des Vaterlandes" verwendet werden könnten.

"Prägt euch Straßen und Wege, Dörfer und Städte, herausragende Kirchtürme und andere markante Orientierungspunkte ein", hieß es. "Kommt ihr an eine Brücke, so untersucht, wie sie gebaut ist und aus welchem Material. ... Watet durch Furten, damit ihr sie in der Dunkelheit wiederfindet."

Da die deutschen Pimpfe in ihren auffälligen Uniformen auf ihren Radwanderungen auch landschaftlich weniger reizvolle Ziele wie das Stahlwerk in Sheffield oder den Gasometer in Glasgow ansteuerten, erhärtete sich der Verdacht, dass es sich bei ihnen um sogenannte "spyclists" handelte - Spione auf dem Rad.

Die Polizei beschattete sie und führte Protokoll, wenn die Deutschen zu Würstchen mit Kartoffelbrei eingeladen wurden oder Mützen mit Pfadfindern tauschten.

Die Veröffentlichung der Dokumente dürfte freilich jenen Kritikern Baden-Powells Auftrieb geben, die dem erzkonservativen Berufsoffizier schon immer latente Nazi-Sympathien unterstellt haben. Tatsächlich lobte er Mein Kampf als "wunderbares Buch mit guten Ideen".

Genützt hätte es ihm aber nichts: Baden-Powells Name stand auf der Liste jener Briten, die nach einer deutschen Besetzung Großbritanniens verhaftet werden sollten.

© SZ vom 09.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: