Helmut Kohl:Geschichtsstunde

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Der Trauerakt für den Ex-Kanzler sollte die EU zur Besinnung bringen. Denn viele seiner Weisheiten sind heute möglicherweise besser zu verstehen. Etwa, dass der Nationalismus die größte Gefahr für die Union ist.

Von Stefan Kornelius

Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, fuhren 50 000 Kampfpanzer unter dem Sowjetstern, Erich Honecker regierte in Ostberlin, und die Europäische Gemeinschaft bestand aus zehn Staaten. Als Helmut Kohl abgewählt wurde, hatte sich das Gebilde schleichend in Europäische Union umbenannt und bot 15 Mitgliedern eine Heimat. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, und die Deutschen lebten in einem Staat.

In dieser Zeit schwereloser Europa-Euphorie schien das Potenzial der EU geografisch wie politisch unerschöpflich zu sein. Zwei Grundsätze frästen sich ein im Bewusstsein: Die Union darf keine Grenzen kennen, keinem Staat kann man die Mitgliedschaft verwehren; und auch der Zuständigkeit der Gemeinschaft sind keine Grenzen gesetzt, die Integration könnte also durchaus in einem europäischen Superstaat enden, den Vereinigten Staaten von Europa. Warum nicht?

Seit diesem Augenblick sind gerade einmal 19 Jahre vergangen, eine Zeitstrecke unmaßgeblich länger als die Regierungsperiode Kohls. Europas Heilsversprechen hat sich als brüchig erwiesen. Die Staatenordnung rotiert inzwischen im Schleudergang. Populismus und Isolationismus nagen an der vergemeinschafteten Vernunft. Und die Union hat nach dem Beinah-Tod ihrer Währung, dem Krieg in der Ukraine und dem politischen Kollektiv-Selbstmord der Briten ihre Endlichkeit gesehen. Die Erleichterung über den jungen, pro-europäischen Präsidenten in Frankreich kann nicht verdecken, dass die EU im Mai nur einen Wahlgang vor ihrem Ende stand.

Wenn Helmut Kohl an diesem Samstag mit einem Trauerakt im Parlament in Straßburg geehrt wird, sollte den inzwischen 28 Staats- und Regierungschefs der EU also der kalte Hauch der Vergänglichkeit entgegenschlagen. Europa ist keine Spielerei, ihre Gemeinschaft ist nicht gottgegeben, Geschichte ist dynamisch und wird jeden Tag geschrieben.

Bei der verzweifelten Suche nach einer Begründung für die EU war es einige Jahre üblich geworden, auf den großen Markt und die Passfreiheit zu zeigen. Außerdem ist es doch ganz angenehm, kein Geld für den Urlaub mehr tauschen zu müssen. Die Mitteleuropäer sahen in der EU eine Eier legende Wollmilchsau, die eine erlittene Ungerechtigkeit ausgleicht. Und über allem schwebt das Gespenst des teutonischen Dominators, der von allem profitiert und nichts verzeiht.

Natürlich hat die EU historische Bedeutung. Warum wird das so leicht verdrängt?

Das Gespür für die historische Schicksalsgemeinschaft Europa ist dabei fast verloren gegangen. Der Begriff ist pathosgeladen und verpasst der Generation Kohl eine Zeitreise zurück in die 80er- und 90er-Jahre. Andererseits lässt er sich jetzt mit Bildern und Ereignissen füllen, mit der Schuldenkrise, dem Brexit, der Abwendung der USA von Europa, einem Gefühl der Unsicherheit, gar der Angst.

Europa 2017 ist ein anderer Kontinent als zu Kohls Zeiten. Integration und Erweiterung mussten an Grenzen stoßen. Aber viele Weisheiten des Gefühls-Historikers Helmut Kohl sind heute möglicherweise besser zu verstehen. Etwa, dass der Nationalismus die größte Gefahr ist für die Union, dass Deutschland ein überwältigendes Interesse haben muss an der Freundschaft zu seinen Nachbarn. Und dass Europa doch über die ganz großen Dinge entscheidet: über Wohl und Weh seiner Bürger, über Krieg und Frieden.

© SZ vom 01.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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