Gedenkfeier für Neonazi-Opfer:Merkel warnt vor Verrohung des Geistes

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"Nicht nur Extremisten sind gefährlich": Angela Merkel warnt bei der Gedenkfeier für die Opfer der Zwickauer Terrorzelle in Berlin vor Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit gegenüber Intoleranz und Rassismus. Sie entschuldigt sich bei den Hinterbliebenen der Neonazi-Morde für falsche Verdächtigungen. Mehrere Angehörige rufen in bewegenden Ansprachen zum Einsatz gegen Hass und Gewalt auf.

Eindringlich hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutschen zu mehr Wachsamkeit gegenüber Rechtsextremismus aufgefordert. Intoleranz und Rassismus äußerten sich keinesfalls erst in Gewalt, sagte Merkel als Hauptrednerin während einer Gedenkfeier in Berlin für die neun ermordeten Kleinunternehmer türkischer und griechischer Herkunft sowie für eine deutsche Polizeibeamtin. Zu der Veranstaltung im Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt kamen 1200 Gäste.

Gefährlich seien nicht nur Extremisten, warnte Merkel. Oft stünden Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit am Anfang eines Prozesses einer schleichenden Verrohung des Geistes. Überall in der Gesellschaft sollten die Bürger ein feines Gespür für Bemerkungen entwickeln: "Aus Worten können Taten werden", mahnte Merkel. Der Kampf gegen Vorurteile, Verachtung und Ausgrenzung müsse täglich geführt werden.

Die Bundeskanzlerin entschuldigte sich bei den Angehörigen der Neonazi-Morde für falsche Verdächtigungen von Behörden. "Dafür bitte ich Sie um Verzeihung", sagte sie. Zugleich rief sie die Gesellschaft auf, gegen jede Form von Intoleranz und Ausgrenzung einzutreten. "Die Morde der Thüringer Terrorzelle waren auch ein Anschlag auf das Land. Sie sind eine Schande für unser Land".

Die Neonazi-Zelle aus dem sächsischen Zwickau (die Täter stammten aus dem thüringischen Jena) hatte von 2000 bis 2007 zehn Menschen ermordet und zahlreiche andere verletzt. Der rechtsextreme Hintergrund der Mordserie war erst im vergangenen Jahr eher durch Zufall aufgedeckt worden.

Zu einem Video der Rechtsextremisten, in dem diese die ermordeten Menschen verhöhnten und dabei Elemente der Zeichentrickserie "Paulchen Panther" verwendeten, sagte Merkel, etwas Menschenverachtenderes, Perfideres und Infameres habe sie in ihrer Arbeit noch nicht gesehen. Es müsse auch nach den Ursachen für die Taten geforscht und die Situation der Täter beleuchtet werden, forderte die Bundeskanzlerin. Der Staat müsse eingestehen, dass er zum Teil scheitere. "Es ist ein schlimmer Zustand erreicht, wenn Neonazis junge Menschen mit Kameradschaftsabenden einfangen können, weil sich niemand sonst um sie kümmert."

Leben unter Verdacht

Zugleich betonte die Kanzlerin, dass die Vielfalt der in Deutschland lebenden Menschen der Grund für den Wohlstand sei. "Deutschland - das sind alle, die in diesem Land leben", betonte Merkel, die die Rede in Vertretung des zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff hielt.

Merkel versprach ein entschlossenes Eintreten des Staates gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Als Kanzlerin versichere sie den Angehörigen: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen", sagte Merkel bei der zentralen Gedenkfeier für die Opfer der Neonazi-Mordserie. Es gelte, alles zu tun, "damit sich so etwas nie wieder wiederholen kann".

Bei der Gedenkfeier kamen Angehörige der Opfer der Neonazi-Mordserie zu Wort. Die Töchter zweier Opfer riefen in ihrer Ansprache zum gemeinsamen Einsatz gegen Hass und Gewalt auf. "Ich habe meinen Vater verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert", sagte Semiya Simsek. Auf ihren Vater war am 9. September 2000 geschossen worden, der Blumenhändler starb später im Krankenhaus.

Seine Tochter erinnerte an die Belastung, lange mit dem falschen Verdacht leben zu müssen, dass familiäre oder kriminelle Motive hinter der Tat gestanden haben könnten. "Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein." Semiya Simsek sagte, es könne keine Lösung sein, Deutschland zu verlassen. "In meinem Land muss sich jeder frei entfalten können", unabhängig von Nationalität, Religion, Hautfarbe oder Geschlecht. Man dürfe nicht die Augen verschließen und so tun, als sei dieses Ziel bereits erreicht.

Gamze Kubasik, deren Vater am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen wurde, sprach von der Hoffnung "auf eine Zukunft, die von mehr Zusammenhalt geprägt ist". Dies solle eine Kerze symbolisieren, die beide junge Frauen zum Abschluss der Veranstaltung unter Beifall aus dem Saal trugen.

Bewegende Worte

In einem bewegenden Auftritt würdigte der Vater des 2006 von Rechtsextremisten ermordeten Halit Yozgat die Gedenkfeier. Er schilderte, wie sein Sohn in seinen Armen starb. Er dankte Merkel für ihre Rede und dem am vorigen Freitag zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff dafür, dass er diese Veranstaltung möglich gemacht habe. "Wir sind seine Gäste. Wir bewundern ihn", sagte Yozgat.

Er dankte für das Angebot finanzieller Unterstützung, betonte aber, Geld wolle seine Familie nicht annehmen. Sie bitte um seelischen Beistand. Statt materieller Entschädigung habe er drei Wünsche. "Unser erster Wunsch ist, dass die Mörder gefasst werden." Auch die Hintermänner müssten aufgedeckt werden. Das Vertrauen seiner Familie in die deutsche Justiz sei groß.

Der zweite Wunsch sei, dass die Holländische Straße, in der sein Sohn in Kassel geboren wurde und dort in seinem Internetcafé starb, nach ihm benannt werde. Als dritten Wunsch äußerte Yozgat, dass im Gedenken an die insgesamt zehn ermordeten Menschen ein Preis ausgelobt und eine Stiftung gegründet werde. Sämtliche Einnahmen und Spenden sollten krebskranke Menschen bekommen.

Im Anschluss an die Veranstaltung wurde in Berlin und zahlreichen anderen deutschen Städten der zehn Opfer der rechtsextremistischen Mordserie gedacht. Viele Institutionen folgten einem Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände und ließen die Arbeit am Donnerstag um 12:00 Uhr kurz ruhen. In Berlin stoppten Busse und Straßenbahnen an Haltestellen, U- und S-Bahnen verharrten an Bahnsteigen. Auch der Rundfunk Berlin-Brandenburg unterbrach seine Programme für eine Minute.

© Süddeutsche.de/Reuters/dpa/odg/gal - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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