Rolle der Bundesrepublik:Deutschland, Europas Mittelfeldregisseur

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Deutschland sollte sich in Punkto EU ein Beispiel an Zinédine Zidane nehmen,. (Foto: Florian Peljak)

Deutschland ist heute wieder zur Zentralmacht Europas geworden. Es muss diese verantwortungs­volle Rolle klug nutzen, um die EU voranzubringen. Dabei kann es einiges von dem früheren Fußballstar Zinédine Zidane lernen.

Gastbeitrag von Timothy Garton Ash

Mit der Wiedervereinigung bekam Deutschland das, was der Historiker Fritz Stern als "zweite Chance" bezeichnete. Das Land hat sie in den vergangenen 25 Jahren sehr gut genutzt. Nun steht es vor der zweiten Hälfte seiner zweiten Chance: der gesamteuropäischen Hälfte. Das wird eine große Herausforderung, weil Europa und der Westen - die Grundpfeiler deutscher Außenpolitik - in einer existenziellen Krise stecken.

Wie die List der Geschichte es will, ist die Saat für diese Krise in den Jahren unseres größten Triumphes gelegt worden: 1989 bis 1991. So öffneten die welthistorischen Ereignisse von 1989 die Tür zur Globalisierung, mit deren Folgen die Unzufriedenheit zu tun hat, die nationalistische Populisten heute nutzen. 1989 ebnete zudem den Weg für den Beitritt der neuen Demokratien Ostmitteleuropas zur EU. Die daraus folgende Einwanderung nach Großbritannien war ein Hauptgrund für das Brexit-Votum.

Deutschland ist wieder die Zentralmacht Europas

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Von Alexander Mühlauer, Brüssel, und Jens Schneider, Berlin

Auch die Euro-Zone und ihre Krise gehen auf 1989 zurück, weil Zeitplan und Grundform der Währungsunion von den damaligen Regierenden Frankreichs und Italiens zur Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung gemacht wurden.

Schließlich ist da die Krise des Westens als geopolitischer Akteur, der zwischen 1939 und 1989 durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten wurde. Während des Irak-Kriegs flüsterte mir ein britischer Ex-Außenminister zu: "Hätten wir nur wieder Breschnew!" Mit dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus ist die Krise des Westens akut geworden.

Ohne Zweifel ist Deutschland heute wieder die Zentralmacht Europas. Doch was sollte Berlin angesichts all der Herausforderungen tun? Und was die EU samt ihren Mitgliedstaaten? Fünf Bemerkungen aus der Perspektive eines englischen Europäers und Beobachters Deutschlands.

Politik ist auch Theater, doch Brüssel hat keines

Deutschland und die anderen EU-Staaten sollten, erstens, ihre nationalen Interessen klar definieren, statt sie in eine vage Hülle aus europäischen Interessen zu kleiden. Wir werden erkennen, dass sich große Bereiche überlappen, was gemeinsame oder komplementäre Interessen erzeugt.

Sodann muss man, zweitens, bei der Weiterentwicklung der EU eine Balance zwischen Idealismus und Realismus finden. Die Grundrechtecharta der EU und Artikel 7 des Lissabon-Vertrags haben versucht, Werte und wirtschaftliche Macht stärker zusammenzubringen. Aber diese Verknüpfung ist noch viel zu locker - auch im Hinblick auf Polen und Ungarn. Dabei geht es um die Glaubwürdigkeit der EU.

Wir sollten uns, drittens, bewusst sein, dass die europäischen Institutionen Mittel für einen höheren Zweck und nie Selbstzweck sind. Zu fragen ist stets, ob eine Institution noch ihren Zweck erfüllt. Es bringt nichts, nur "mehr Europa" zu fordern. Nur eine Organisation, die bereit ist, Macht nach unten wie nach oben problemorientiert umzuverteilen, wird von ihren Bürgern als lebendig betrachtet.

Kompromisse dürfen nicht nur nationalen Interessen dienen

Europas Vielfalt ist, viertens, auch die von Kulturen und Sprachen. Sie setzt der Entstehung eines europäischen "Demos" und dem Aufbau einer direkten europäischen Demokratie vorerst Grenzen. Politik ist auch Theater, das eine gemeinsamen Bühne und Sprache braucht. Brüssel jedoch hat kein Theater - zumindest kein attraktives. Nationale Politiker und Meinungsführer sollten sich daher zu Hause in ihren landesspezifischen Stilen und Idiomen - in ihrem Theater - für die EU starkmachen. Unsere Kulturen, Sprachen und Denktraditionen prägen unsere Vorstellungen von Staat, Recht und Politik.

Die Kompromisse müssen also, fünftens, nicht nur zwischen nationalen Interessen gefunden werden, sondern auch zwischen unterschiedlichen Vorstellungen von Ordnung und Gemeinschaft.

Das bringt mich zur Idee vom "Europa der zwei Geschwindigkeiten" und vom "Kerneuropa". Dabei gibt es schon heute viele sich überschneidende Kreise, wobei Deutschland nahe dem Zentrum sitzt. Es ist davor zu warnen, eine zu übersichtliche, nur theoretisch stimmige Struktur zu errichten; vor allem sollte man die Euro-Zone nicht mit Kerneuropa gleichsetzen. Die Euro-Zone ist nicht der beste Kern für Betätigungsfelder wie die Außen- und Sicherheitspolitik.

Die Komplexität sich überschneidender Kreise fordert der EU viel ab. Wie ein Olympionike muss Europa stark und flexibel zugleich sein. Stellen wir uns Europa als Fußballmannschaft vor, dann sollte Deutschland der Mittelfeldregisseur sein, der die Chancen herausspielt, gelegentlich selbst ein Tor erzielt, meist aber diese glorreichen Momente anderen überlässt. Deutschland gewissermaßen als Zinédine Zidane Europas - wäre das nicht eine schöne Rolle?

Timothy Garton Ash, 62, lehrt Geschichte an der Universität Oxford.

© SZ vom 30.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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