Justiz im Nationalsozialismus:Richter, die dem Gewissen Schweigen befahlen

Justizminister Dr. Franz Schlegelberger, 1938

Franz Schlegelberger auf einem Foto aus dem Jahr 1938.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Niemand hat das Recht, nur zu gehorchen. Auch Richter nicht. Vor 70 Jahren wurden Hitlers Blutjuristen zu relativ milden Strafen verurteilt.

Gastbeitrag von Christoph Safferling

Die Strafen waren mickrig. Und als die drei amerikanischen Richter des Militärgerichtshofs Nr. III an diesem Morgen herabblickten auf die 14 Angeklagten - da blickten Richter zu ihnen zurück, Berufskollegen.

Hitlers schlimmste Blutjuristen, die vor nun 70 Jahren in Nürnberg verurteilt wurden, durften darauf vertrauen, mit vergleichsweise milden Blicken gesehen zu werden. Es gab kein Todesurteil, nur vier Mal lebenslänglich, sechs zeitige Freiheitsstrafen zwischen fünf und zehn Jahren, vier Freisprüche. Und man sollte ergänzen: Keine zehn Jahre später waren alle Häftlinge wieder entlassen.

Der Umgang des Militärtribunals mit dieser besonderen Gruppe von Angeklagten blieb vergleichsweise von Nachsicht geprägt. Dabei hatten diese Männer das nationalsozialistische Morden rechtstechnisch flankiert, legalisiert und damit vielfach dem Gewissen in Deutschland Schweigen befohlen.

Safferling

Christoph Safferling, 46, lehrt Strafrecht und Völkerrecht an der Uni Erlangen-Nürnberg. Bekannt geworden ist er durch die Erforschung brauner Seilschaften im Bundesjustizministerium in den 50er-Jahren.

(Foto: Lerot)

Franz Schlegelberger zum Beispiel, der Staatssekretär im Reichsjustizministerium, der von 1941 an ein Jahr lang als kommissarischer Minister agierte, bevor er von Hitler reich beschenkt aus dem Dienst schied: Er war Karrierejurist, kein Ideologe; er verdankte seinen Aufstieg nicht den Nazis. Aber als sie an die Macht kamen, biederte er sich an.

Schlegelberger goss die Diskriminierung von Juden und Polen in Paragrafen, in ein Gewand von Recht und Ordnung, und er weitete die Verhängung von Todesstrafen massiv aus. Schließlich ersann er mit aller rechtstechnischen Raffinesse einen Weg, auch die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", also die Massenmorde an Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten, juristisch reinzuwaschen.

So unbefriedigend das Strafmaß für diese Männer auch blieb, an dem nasskalten Wintertag vor 70 Jahren wurde trotzdem Rechtsgeschichte geschrieben. In keinem anderen Strafverfahren stand die gesellschaftliche Rolle des Richters je so auf dem Prüfstand wie hier. Das Urteil, das in Nürnberg gesprochen wurde, rührte an Fragen, denen sich noch heute viele Juristen in vielen Ländern nur unzureichend stellen.

Noch immer fällt es vielen Richtern leicht, sich hinter einer rein mechanischen, scheinbar unpolitischen juristischen Methodik zu verstecken und die Verantwortung für das Resultat der eigenen Entscheidungen zu leugnen. Man schreibe die Gesetze ja nicht selbst; man wende sie nur an. Als seien Richter nur Befehlsempfänger, nur Klempner an einer Maschine, die jemand anderes betreibt; nicht eigenständige Akteure mit Macht und dementsprechend auch Mitverantwortung.

Die Beschäftigung mit Justizunrecht sollte zur Pflicht für Jurastudenten werden

Die Sorge darüber treibt auch das Bundesjustizministerium um. Es möchte die Auseinandersetzung mit dem Justizunrecht des 20. Jahrhunderts, insbesondere der NS-Zeit, derzeit als Pflichtstoff in das Curriculum für Jurastudenten aufnehmen lassen, durch eine entsprechende Ergänzung des deutschen Richtergesetzes.

Die Justizminister der Länder, Herren über die juristische Ausbildung, sträuben sich; sie wollen keine Einmischung des Bundes. Die Professoren sträuben sich auch; sie meinen, die Ausbildung sei schon perfekt, das kritische Bewusstsein unter dem Nachwuchs bedürfe keiner Schärfung.

Dabei war "der Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen verborgen", wie das Urteil in Nürnberg es ausdrückte. Juristen haben eine tragende Rolle in der Gesellschaft. Sie stabilisieren das politische System.

Dieser Verantwortung können sie nur im Wissen um das katastrophale kollektive Versagen der Zunft nach 1933 gerecht werden. Sie müssen wissen, welchen Einfluss die eigene politische Haltung auf die Auslegung der Gesetzte hat; müssen wissen von der Pflicht zum Ungehorsam, von der sich kein Jurist entbinden kann, auch nicht unter Verweis auf die Buchstaben eines Gesetzes oder das Bellen eines höherrangigen Befehlshabers. "Niemand hat das Recht zu gehorchen", hat Hannah Arendt einmal treffend formuliert.

Die juristische Variante dieses Satzes, 1946 proklamiert von dem Rechtsphilosophen Gustav Radbruch, wurde von Richtern in der Bundesrepublik lange bekämpft. Sie entgegneten: Was damals "Recht" gewesen sei, könne heute nicht Unrecht sein. Das ist bis heute nicht ausgestanden, die Debatte in Juristenkreisen ist nie zur Ruhe gekommen.

Die Bestrafung der Mauerschützen und der SED-Funktionäre nach der Auflösung der DDR führte zwar zu einem gewissen Umdenken. Nun lenkte auch der Bundesgerichtshof ein und bekräftigte, dass "legales" Handeln wie jenes der Mauerschützern nichtsdestotrotz verbrecherisch sein könne.

Aber täglich wird auch der Rechtsstaat bei uns auf die Probe gestellt: Bei der Sicherungsverwahrung erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Deutschland ein grundlegendes Menschenrechtsproblem habe. Und zurzeit wird in Länder abgeschoben, in denen die Sicherheitslage prekär oder ein faires Strafverfahren unwahrscheinlich ist.

Für alles wird eine saubere juristische Begründung geliefert. Der Appell an Juristen, ihr Gewissen zu prüfen und auch festgeschriebene Gesetze stets zu hinterfragen, hat an Aktualität nicht ganz verloren.

Ein Anfang wäre schon gemacht, wenn sich alle Länderministerien der eigenen Vergangenheit stellen würden, so wie es unlängst das Bayerische Justizministerium beschlossen hat zu tun. In gleicher Weise gilt dies an den Universitäten, an den juristischen Fachbereichen und Fakultäten. Sie waren die historischen Ideenfabriken für manche menschenverachtende Doktrin der NS-Justiz.

Der Hauptangeklagte verließ das Gefängnis schon 1951 als freier Mann

Allenfalls ein Bruchteil von ihnen hat sich dem eigenen Versagen während der braunen Zeit bereits gestellt oder das kollektive Wegschauen, das Kleinreden und Beschönigen in den 1950er- und 1960er-Jahren thematisiert. Erst mit solch einer offenen Aufarbeitung würde man den behaupteten kritischen Geist unter Beweis stellen und wahrscheinlich auch eine ganze Reihe junger Menschen für diese Themen begeistern.

Der Hauptangeklagte Schlegelberger übrigens verließ bereits 1951 das Landsberger Gefängnis als freier Mann, angeblich wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustands. Er starb 23 Jahre nach der Urteilsverkündung im hohen Alter von 94 Jahren. Alimentiert mit einer staatlichen Pension konnte er noch lange seinem juristischen Tatendrang nachgehen.

Mit den ehemaligen Ministeriumskollegen Ernst Geßler und Wolfgang Hefermehl verlegte er einen mehrbändigen Kommentar zum Handelsgesetzbuch und führte seinen 1928 begründeten Kommentar zur Freiwilligen Gerichtsbarkeit fort. Auch schrieb er in seiner neuen Heimat Flensburg ein Werk zum Seehandels- und Seeversicherungsrecht. Als wäre nichts gewesen.

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