Flüchtlingstragödie:"Die Schlepper haben sie wie Fische gestapelt"

220 migrants rescued by Italian ship

Geschafft: 220 Flüchtlinge jubeln, als sie von der italienischen Küstenwache an Land gebracht werden.

(Foto: dpa)

Die Toten zählen, den Lebenden helfen - das versucht die Internationale Organisation für Migration. Mitarbeiter wie Flavio di Giacomo sind oft die ersten Kontaktpersonen für Flüchtlinge, wenn sie die italienische Küste erreichen.

Interview von Antonie Rietzschel

1750 Menschen starben dieses Jahr bereits bei der Flucht über das Mittelmeer, 750 am vergangenen Wochenende. 15 000 Flüchtlinge erreichten allein im April die italienische Küste. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) dokumentiert Europas Flüchtlingsströme, versucht die Toten zu zählen und den Lebenden zu helfen. In Italien arbeitet sie mit dem Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen und dem Roten Kreuz zusammen. Seit acht Jahren arbeitet Flavio di Giacomo für die IOM.

SZ.de: Am Montag geriet ein Boot mit 300 Flüchtlingen an Bord in Seenot. Ihre Organisation gab diese Information an die Küstenwache aber auch an die Medien weiter, nachdem ein Notruf eingegangen war. Woher wissen Sie, dass solche Informationen stimmen?

Flavio di Giacomo: Natürlich ist die Kommunikation bei solch einem Notruf sehr schwierig - die Menschen weinen am Telefon, die Verbindung ist schlecht. Dazu kommen all die Geräusche. Aber bisher haben wir, genauso wie die Küstenwache, die Erfahrung gemacht, dass die Angaben meistens stimmten.

Wie oft gehen Notrufe bei Ihnen ein?

In den vergangenen Wochen eher weniger. Die meisten Notrufe gehen tatsächlich bei der Küstenwache ein. Wenn innerhalb von sieben Tagen 11 000 Flüchtlinge alleine in Italien ankommen, können Sie sich ja ungefähr vorstellen, was da los ist.

Was war bei Ihnen los, nachdem vergangenen Sonntag ein Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste kenterte und mindestens 750 Menschen starben?

In den vergangenen Tagen habe ich die Überlebenden des Unglücks betreut. Sie sagten uns, das Boot sei 23 Meter lang gewesen, da ist Platz für ungefähr 500 bis 600 Menschen. Als uns einer der Flüchtlinge sagte, es seien ungefähr 800 Menschen an Bord gewesen, waren wir sehr überrascht. Sowas haben wir bisher nicht erlebt. Die Schlepper haben sie wie Fische gestapelt.

Wie geht es denjenigen, die überlebt haben?

Sie sind in einem Auffanglager in Mineo auf Sizilien. Gesundheitlich geht es ihnen den Umständen entsprechend gut, aber sie stehen unter Schock und werden psychologisch betreut. Sie müssen erst einmal verarbeiten, was passiert ist. Ich habe mit einem jungen Mann aus dem Senegal gesprochen. Eine Frau hat ihm ihre 18-Jährige Tochter anvertraut, damit er auf sie aufpasst. Er sagte mir, sie sei wie eine Schwester für ihn gewesen. Jetzt ist sie tot.

Wie gehen sie mit den Aussagen um?

Wir versuchen, sie soweit es geht zu überprüfen, indem wir Aussagen miteinander vergleichen. Letztes Jahr im September sank ein Flüchtlingsschiff vor Malta. 500 Menschen starben, nur wenige überlebten. Wir befragten diejenigen, die nach Italien gebracht wurden und baten schließlich die Kollegen in Malta, die Geschichten anhand der Aussagen der dortigen Überlebenden abzugleichen. Im Fall des jüngst gesunkenen Schiffs fragten wir fast 20 Flüchtlinge, die an Bord waren. Sie alle bestätigten, dass 800 Menschen an Bord waren. Was wir nicht prüfen können ist, ob tatsächlich kaum Frauen und Kinder an Bord waren.

Warum?

Diejenigen, die überlebt haben, waren auf dem obersten Deck, sahen also nicht alle Passagiere. Sie haben uns erzählt, dass mehr als tausend Menschen am Strand versammelt waren, als das Schiff beladen wurde. Viele Frauen und Kinder befanden sich in den hintersten Reihen. Für sie gab es keinen Platz mehr. Sie haben überlebt.

Die Mitarbeiter Ihrer Organisation sind oft die ersten Kontaktpersonen für die Flüchtlinge, wenn sie die italienische Küste sicher erreicht haben. Nicht zuletzt melden sich deswegen auch Angehörige bei Ihnen.

Oft sind es besorgte Familienmitglieder, Mütter, die wissen wollen, ob ihr Sohn lebt. Das Schlimme ist: Wenn die bei uns anrufen, ist der Sohn schon tot. Das wissen wir aus Erfahrung. Jeder der Flüchtlinge bekommt eine Telefonkarte und meldet sich normalerweise recht schnell Zuhause.

Das sagen Sie ihnen aber nicht.

Wir müssen dabei sehr behutsam vorgehen. Wir versuchen etwas herauszubekommen, indem wir die von der Polizei erstellten Passagierlisten auf den Namen hin überprüfen. Sollten wir dabei nichts finden, können wir den Angehörigen lediglich sagen, dass wir nicht bestätigen können, dass der oder die Gesuchte auf dem Schiff war. Als das Schiff vor Malta sank, haben wir jede Menge Anfragen per Telefon und Mail erhalten.

Gibt es Schätzungen, wie viele Schiffe im Mittelmeer gesunken sind, ohne dass das groß bekannt wurde?

Wir wissen, wie viele Menschen ankommen - aber nicht, wie viele sterben. Im vergangenen Jahr sind ungefähr 800 Schiffe von Libyen aus gestartet. Wie viele davon sanken, lässt sich schwer sagen. Mittlerweile kommen die Flüchtlinge mit Booten, die sich in sehr schlechtem Zustand befinden, die schaffen es nicht weit. Wir hatten schon den Fall, dass uns Flüchtlinge erzählen, sie seien gemeinsam mit einem anderen Schiff gereist, das gesunken sei. 100 Menschen sollen an Bord gewesen sein. Hätten die uns das nicht erzählt, hätte niemand davon erfahren.

Sie versuchen nicht nur die Toten zu zählen, sondern auch den Lebenden zu helfen. Wie sieht das aus?

Zunächst geht es erst einmal um juristische Hilfe. Wir erklären die Gesetzeslage in Italien und das Asylverfahren. Darüber hinaus haben wir ein Team, dass sich um Opfer von Menschenhandel kümmert. Ein anderes versucht Familien wieder zusammenzuführen.

Die EU will ihre Flüchtlingspolitik nun mithilfe eines Zehn-Punkte-Plans verbessern. Zentraler Punkt ist die Aufstockung des Budgets für die Missionen Triton und Poseidon. Können so mehr Menschen gerettet werden?

Zunächst einmal finde ich, die EU hat ein starkes Signal gesetzt. Sie hat signalisiert, dass es ihr um die Rettung von Menschenleben geht. Triton und Poseidon mit mehr Geld auszustatten ist ein erster Schritt. Allerdings wäre es auch wichtig, die Zone auszweiten, in der die italienische Marine patrouilliert. Die Menschen sterben in internationalen Gewässern.

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