Deutsch-polnische Beziehungen:Was wissen wir schon von Polen?

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Die deutsch-polnische Grenze auf der Insel Usedom. (Foto: Stefan Sauer/dpa)

Ein großes Forschungsprojekt beleuchtet die gegenseitige Wahrnehmung von Polen und Deutschen. Es gilt, einige Wissenslücken zu füllen.

Von Thomas Urban

Im August 1829 lud Johann Wolfgang von Goethe den polnischen Dichter Adam Mickiewicz mehrmals zur Mittagstafel in sein Haus in Weimar ein. Der 80-jährige Gastgeber war in ganz Europa eine Berühmtheit, sein 31-jähriger Gast war dagegen nur wenigen seiner Landsleute bekannt. Doch war er als Gesprächspartner für Goethe interessant, weil er zuletzt in Russland gelebt hatte. Der junge Pole versuchte, den alten Goethe für den Freiheitskampf der Polen einzunehmen, deren Staat Ende des 18. Jahrhunderts die drei Nachbarn Preußen, Österreich und Russland unter sich aufgeteilt hatten. Doch dieser winkte ab: Er tadelte die Ideen von den widerstreitenden Nationen als "unübersteigliche Grenzen, welche die Menschheit zerteilen".

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Die Historiker wollen Leerstellen im Wissen der Deutschen über ihre Nachbarn füllen

Wenig hat sich seitdem an der Wahrnehmung der beiden Literaten geändert. Goethe gilt als kosmopolitischer Dichterfürst, das Werk Mickiewicz', heute von seinen Landsleuten als Nationalheros verehrt, ist hingegen außerhalb Polens so gut wie unbekannt. Dabei gibt es sehr gute Gründe, sich näher mit ihm auseinanderzusetzen: Er hat das Wort von "Polen, dem Christus der Völker" populär gemacht, nach dem die geteilte Nation erst leiden muss, dann aber wie der Messias zur Erlösung der Welt berufen ist. Auf Mickiewicz berufen sich noch heute nationalkonservative Politiker, die eine Sonderrolle Polens verfechten, wie etwa Jarosław Kaczyński, der derzeit das politische Geschehen an der Weichsel dominiert.

Leerstellen im Wissen der Deutschen über die Nachbarn im Osten versucht die fünfbändige Edition "Deutsch-Polnische Erinnerungsorte" zu füllen, ein Projekt des Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Das Wissen der Polen über ihre Nachbarn im Westen ist um ein Vielfaches größer, nicht zuletzt ist das Interesse Folge der schmerzlichen historischen Erfahrungen mit ihnen. Doch sind die Vorstellungen der Polen keineswegs frei von Vorurteilen und Klischees. Deshalb ist das Sammelwerk, zu dem insgesamt 130 Autoren aus beiden Ländern beigetragen haben, auch auf Polnisch erschienen. Die Gegenüberstellung der Fremdenbilder der Deutschen und der Polen ist dabei durchgehendes Prinzip.

Oft genug hatten die konträren Sichtweisen gravierende politische Folgen. Wie im Fall Danzig, das Anlass für den deutschen Angriff auf Polen 1939 bot, weil beide Seiten die Stadt für sich reklamierten. Oder wie bei der schlesischen Metropole Breslau, für die nach dem Krieg eine "polnische Identität konstruiert" werden musste. Nicht minder kontrovers sind die Bilder von Otto von Bismarck: Für die Polen steht er für die Unterdrückung ihrer Sprache und den Kulturkampf gegen die katholische Kirche. So irritiert es sie überaus, dass der "eiserne Kanzler" heute bei den Deutschen eine Renaissance erlebt, ebenso wie das Preußentum.

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Besonders heikel sind zwei Themen: Auschwitz und Warschauer Aufstand. Denn beides gab es doppelt, jeweils als Schauplatz der Tragödie der Juden wie der nicht-jüdischen polnischen Mehrheit: Seit dem Frühjahr 1940 wurden in das neu eingerichtete Konzentrationslager Auschwitz I, auch "Stammlager" genannt, zunächst vor allem Angehörige der katholischen Elite Polens deportiert, später auch sowjetische Kriegsgefangene. Es war in erster Linie Arbeitslager, sein Symbol wurde der geschwungene Schriftzug "Arbeit macht frei" über dem Haupteingang. Doch wurden dort auch medizinische Experimente an Häftlingen durchgeführt, auch fanden dort die Probeläufe für den Massenmord mit Zyklon B statt. Bis zu 70 000 Häftlingen von Auschwitz I wurden von den Deutschen ermordet. Erst knapp zwei Jahre nach dem Stammlager wurde in drei Kilometern Entfernung das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau eingerichtet, zu dessen Symbol der Wachturm über dem Eisenbahngleis zur Selektionsrampe wurde.

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Auch die Tatsache, dass es im Zweiten Weltkrieg in Warschau nicht nur eine, sondern zwei Erhebungen gegen die deutschen Besatzer gab, ist gerade bei den Deutschen wenig bekannt und verbittert viele Polen: Im Frühjahr 1943 schlug die SS die Erhebung der "Jüdischen Kampforganisation" grausam nieder und zerstörte das Ghetto. Anderthalb Jahre später, im Spätsommer 1944, versuchte die Untergrundarmee AK angesichts der heranrückenden Roten Armee, die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen.

Differenzierter Blick auf Flucht und Vertreibung

Durchaus differenziert schaut man in Polen auch auf den nicht minder emotional besetzten Komplex Flucht und Vertreibung, man trennt nämlich beides. Die Flucht von Millionen Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße wird von polnischen Historikern - keineswegs zu Unrecht - der NS-Führung angelastet, die zunächst eine organisierte Evakuierung verboten hatte. Für die Vertreibung der Zurückgebliebenen werden in Polen die angeblich rechtsverbindlichen Entscheidungen der Siegermächte verantwortlich gemacht, eine Sicht, der sich nicht nur der Bund der Vertriebenen, sondern auch sämtliche Bundesregierungen bis heute nicht anschließen können.

Der Aufsatz in der Edition über die kontroverse Westverschiebung Polens erfasst allerdings einen der Hauptstreitpunkte überhaupt nicht: Denn darin wird behauptet, dass die Siegermächte in Potsdam die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze festgelegt hätten. Die störrischen Westdeutschen hätten 45 Jahre gebraucht, nämlich bis zum deutsch-polnischen Grenzvertrag von 1990, bis sie diese Rechtslage anerkannt hätten. In Wirklichkeit konnte in Potsdam keine Einigung darüber erzielt werden, in das Abschussprotokoll fand lediglich der Passus Eingang, dass die Entscheidung über die polnische Westgrenze einer künftigen Friedenskonferenz vorbehalten bleiben solle. In polnischen Schulbüchern und populären Darstellungen kommt dieser Passus nicht vor; daher wurden alle deutschen Debatten über die Vertreibung vor allem als antipolnische Demagogie gesehen.

So liefert die Edition keine Antwort auf die Frage, warum dieses Thema bis in die jüngste Vergangenheit so heftige Verwerfungen im deutsch-polnischen Verhältnis auslöste, obwohl es politisch um nichts mehr ging. Doch ist dies der einzige Schwachpunkt und er fällt angesichts der Themenfülle nicht ins Gewicht. Ein grundlegender Unterschied ist dabei auszumachen: Für die Deutschen sind die Schlacht im Teutoburger Wald, der Ruhm des Prinzen Eugen oder die politische Aussage von Beethovens "Eroica", aus denen mancherlei mächtige Mythen erwuchsen, abgeschlossene Kapitel der Geschichte. In Polen aber sind die Siege über die Sachsen in der Schlacht von Cedynia 972 oder über den Deutschen Orden bei Tannenberg/Grunwald 1410 bis heute Bestandteile der nationalen Identität ebenso wie die Werke Chopins, über die Robert Schumann schrieb, sie seien "unter Blumen eingesenkte Kanonen", denn sie stärkten das kulturelle und somit nationale Bewusstseins der Polen in der Zeit der Teilungen.

Opfer- und Heldendiskurs sind Grundelemente des polnischen Selbstverständnisses

Opfer- und Heldendiskurs sind Grundelemente des polnischen Selbstverständnisses. Eine Reihe von Aufständen zielte auf die Befreiung der Nation von Fremdherrschaft ab. Hier sind die tieferen Gründe für die Euroskepsis des nationalkonservativen Lagers in Polen zu suchen. Denn die Mitgliedschaft in der EU bedeutet ja Aufgabe nationaler Kompetenzen, also Kontrolle durch alle anderen, womit die deutsche Elite aufgrund der Erfahrung mit dem NS-Regime weitaus weniger Probleme hat.

Der Edition gelingt es also, über Geschichtsbilder das Denken und Handeln der Nachbarn von heute zu erklären. Die Herausgeber, Robert Traba, langjähriger Leiter der Vertretung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, und der Oldenburger Historiker Hans Henning Hahn, sowie ihre Mitarbeiter haben somit einen fundamentalen Beitrag zur deutsch-polnischen Verständigung geleistet, eine grandiose Pionierleistung.

© SZ vom 08.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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