SZ.de: Der Hitler-Stalin-Pakt gilt als eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Nazi-Deutschland am 1. September 1939 Polen überfiel - und damit den Zweiten Weltkrieg auslöste. Warum hat der Tag im kollektiven Gedächtnis der Deutschen trotzdem keine herausragende Rolle?
Stefan Troebst: Das hat mit Deutschlands verzerrter Sicht auf den Zweiten Weltkrieg zu tun. In unserem Geschichtsbild ist zwar verankert, dass der Krieg am 1. September 1939 begonnen hat, manche wissen auch, dass das etwas mit Polen zu tun hatte. Aber das zentrale Ereignis für die Deutschen ist das "Unternehmen Barbarossa" am 22. Juni 1941, also der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Ein gutes Beispiel dafür ist der populäre ZDF-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" vom vergangenen Jahr, in dem die zwei Jahre vor dem Sommer 1941 weitgehend ausgeblendet werden.
Werden also die vielen Opfer und die massiven Zerstörungen, die der Zweite Weltkrieg gerade in Polen verursachte, in der Bundesrepublik und Russland ignoriert?
Die heutige deutsche und die russische Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs sind sich insofern sehr ähnlich, als in beiden Fällen der 22. Juni 1941 den Auftakt des "eigentlichen" Krieges im Osten bildet und der 8./9. Mai 1945 sein Ende. In Russland wird nach wie vor die Stalinsche Formel vom Großen Vaterländischen Krieg verwendet und da stehen zwingend immer die beiden Jahreszahlen 1941 und 1945 dabei.
Am 23. August 1939 einigten sich Nazi-Deutschland und die Sowjetunion auf einen Nichtangriffspakt. Dieser ging als Hitler-Stalin-Pakt oder auch Molotow-Ribbentrop-Pakt (benannt nach den Außenministern der beiden Länder, die das Dokument unterzeichneten) in die Geschichte ein. Besondere Brisanz erhielt der Pakt durch das Geheime Zusatzprotokoll, in dem die beiden Länder Ostmitteleuropa unter sich aufteilten. Moskau sollte Bessarabien, Finnland und die baltischen Staaten Estland und Lettland erhalten, Litauen sollte Berlin zugeschlagen werden (tatsächlich fiel das Land später auch unter Kontrolle der UdSSR). Polen sollte geteilt werden. Der Nichtangriffspakt ermöglichte es Hitler-Deutschland, Polen am 1. September 1939 zu überfallen, ohne ein Eingreifen der Sowjetunion befürchten zu müssen.
Die zwei Jahre von 1939 bis 1941 werden einfach außer Acht gelassen?
Die militärische Aggression der Sowjetunion gegen Polen wird in Russland nicht als Teil des Zweiten Weltkriegs betrachtet, sondern als Korrektur der Geschichte. Man sieht es als Befreiung eines Territoriums, das historisch zum Moskauer Staat, zum Zarenreich gehört hat.
Und das hat sich auch nicht damit geändert, dass das Geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt, dessen Existenz in der UdSSR über Jahrzehnte hinweg geleugnet wurde, nun auch in Russland anerkannt wird? Immerhin haben Deutschland und die Sowjetunion darin die ostmitteleuropäischen Staaten völlig skrupellos zwischen sich aufgeteilt.
In der Sowjetunion wurde die Authentizität des Dokuments erst am Weihnachtsabend 1989 offiziell anerkannt - durch einen förmlichen Beschluss des Kongresses der Volksdeputierten. Heute argumentieren 90 Prozent aller Historiker in Russland so: Es hat ein Geheimes Zusatzprotokoll zum Nichtangriffspakt gegeben. Der Pakt und das Zusatzprotokoll waren aber defensive Maßnahmen gegen die Aggressivität des nationalsozialistischen Deutschlands. Stalin sei 1939 wegen der militärischen Defizite der Sowjetunion nichts anderes übriggeblieben, als angesichts eines möglichen Angriffs Deutschlands auf Zeit zu spielen.
Ist an dieser Sichtweise nicht tatsächlich etwas dran?
Sie ist nicht ganz falsch. Der stalinistische Terror in den 1930er Jahren hat die sowjetischen Streitkräfte brutal getroffen. Die gesamte Generalität und große Teile des Offizierskorps wurden in den Jahren 1936 bis 1938 physisch liquidiert - die Rote Armee war also 1939 weitgehend kopflos. Richtig ist zudem, dass Stalin außenpolitisch eine Schaukelpolitik betrieben hat zwischen den Westmächten und dem Dritten Reich. Seine Linie war: "Wer mir das bessere Angebot macht, mit dem paktiere ich" - und das war Hitler mit den Gebietszusagen im Geheimen Zusatzprotokoll.