Ende der Ära Tusk:Musterland Polen mäkelt

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Donald Tusk im Parlament in Warschau. Der polnische Premier gibt nach sieben Jahren sein Amt auf - und wird Ratspräsident der EU. (Foto: REUTERS)

Er kann eigentlich mit Genugtuung abtreten: Der scheidende Premier Tusk, bald EU-Ratschef, hat für politische Stabilität in Polen gesorgt und den Bürgern gute Jahre beschert. Trotzdem sind viele Menschen unzufrieden.

Kommentar von Klaus Brill, Warschau

Polen zu regieren ist keine leichte Aufgabe. Das Land trägt schwer an den Erblasten, die ihm aufgebürdet wurden, und es ist die Heimat vieler ausgeprägter Individualisten. Wer da Reformen einleiten, Konsens bilden und 38,5 Millionen Einzelgänger zusammenbringen will, der braucht Geduld und Kraft, Zähigkeit und starke Nerven. Donald Tusk besitzt diese Eigenschaften in hohem Maße. Nur deshalb konnte er sieben Jahre lang Premier bleiben, länger als jeder andere vor ihm seit 1989.

Wenn er jetzt das Ruder abgibt, um ein neues Kommando auf einem noch größeren Schiff, in der Führungstroika der EU, zu übernehmen, so kann er dies mit Genugtuung tun. Im Rückblick erweist sich seine Regierungszeit als eine fruchtbare und erfolgreiche Periode. Mitten in der Weltwirtschaftskrise konnte Polen seine hohen Wachstumsraten beibehalten, zeitweise lag es an der Spitze der EU.

Investoren loben die Phantasie und Einsatzfreude der Bürger

Wer heute durch polnische Dörfer fährt oder eine der alten Städte besucht, der hat an jeder Straßenecke vor Augen, was für ein fundamentaler, ja historischer Wandel sich gerade vollzieht. Die qualitätsbewusste Rekonstruktion und Konservierung historischer Gebäude, die Neuordnung des öffentlichen Raumes und die kühnen Neubauten zeitgenössischer Architekten sind sichtbarer Ausdruck des Einfallsreichtums, der Leistungsfähigkeit und der Einsatzfreude der Polen, die unisono auch von ausländischen Investoren gerühmt werden.

Erstmals seit langer Zeit konnten die Talente sich frei und friedlich entfalten. Wenn heute zu lesen ist, Polen habe gerade die besten 25 Jahre seit dem Goldenen Zeitalter des polnisch-litauischen Jagiellonen-Reichs im späten Mittelalter hinter sich, dann ist vor allem dies gemeint. Polens größtes Potenzial sind seine Menschen und ihr hoher Bildungsstand, das lässt auf eine Kontinuität des Aufschwungs hoffen.

Aufschwung als Leistung aller Polen

Natürlich ist das nicht alles Donald Tusk als Verdienst zuzurechnen. Es ist die Leistung aller Polen seit 1989. Zum guten Teil basiert der Erfolg auch auf jenen strengen und opferreichen Radikalreformen, mit denen die Regierungen der Wendezeit und ihr Finanzminister Leszek Balcerowicz schon vor 25 Jahren den Übergang zur Marktwirtschaft einleiteten.

Tusk hat nach einer Zwischenphase schwerer Verwerfungen unter dem nationalkatholischen Gespann der Kaczyński-Zwillinge dem Land politische Stabilität gegeben. Polen wurde unter ihm zum verlässlichen, berechenbaren Partner, dessen Ansehen und Gewicht seit Jahren stetig wuchsen. Nicht nur die Berufung Tusks zum EU-Ratspräsidenten ist der Ausdruck dafür, sondern auch der wach-sende Einfluss auf die Entscheidungen in Nato und EU. Und ebenso die Tatsache, dass Polen bei der Verteilung der Fördermittel im EU-Haushalt 2014-20 von allen Ländern den größten Anteil ergatterte - was auch die Vorlage vernünftiger Projekte voraussetzte, die den strengen Brüsseler Anforderungen genügten. Das schafft beileibe nicht jede Regierung, auch in dieser Hinsicht liegt Polen an der Spitze der postkommunistischen EU-Mitglieder.

Reformen lassen auf sich warten

Mit Lorbeer wird man Tusk deshalb zu Hause nicht bekränzen. Zwar hat der Aufstieg in Brüssel seine Beliebtheitswerte steil ansteigen lassen, aber allseits populär ist er deshalb noch keineswegs. Dafür gibt es viele Gründe. Seit der Wiederwahl 2011 hat seine konservativ-liberale Regierung eine umstrittene, aber unumgängliche Rentenreform umgesetzt, die soziale Kürzungen einschloss. Die versprochene Reform des Gesundheitswesens, das viele Ärgernisse bietet, lässt auf sich warten, desgleichen eine Steuerreform, die die wirtschaftsliberale Klientel sich wünscht. Und die neuen urbanen Mittelschichten vermissen Courage bei gesellschaftlichen Neuerungen wie der Einführung der Homo-Ehe, die am Widerstand katholischer Quertreiber scheiterte.

Viele Menschen sind auch unzufrieden, weil die Löhne und Gehälter mit durchschnittlich gut 900 Euro im Monat immer noch nur ein Drittel deutscher Einkünfte betragen. Die Arbeitslosigkeit ist, auch wenn sie kontinuierlich sinkt, mit 11,7 Prozent noch immer hoch. Und dass weiterhin 2,5 Millionen Polen, vor allem junge, als Emigranten im westlichen Ausland leben, wird ebenfalls als Manko empfunden. Ein Übriges tut die Schwarzmalerei der nationalkatholischen Opposition und ihrer Kampfblätter. Dem Führer der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jarosław Kaczyński, fiel jetzt die Bemerkung ein, die Berufung Donald Tusks zum Ratspräsidenten der EU belege den geringen Stellenwert dieses Postens. Auch das ist ein Hinweis darauf, was Polen und Europa an Donald Tusk hatten und haben - er repräsentiert das andere, das offene, moderne Polen.

© SZ vom 10.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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