Die SPD und ihre Krisen:Als das Feuer noch loderte

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Die Verwandlung der SPD in Bad Godesberg ist fünfzig Jahre her: Wie damals aus der Sozialdemokratie eine frische Bewegung wurde - und was der Unterschied zu heute ist.

Heribert Prantl

Es gibt einen grausamen Witz über die SPD, der die Form einer Rechenaufgabe hat. Er geht so: "1 sozialdemokratische Partei hat in 8 Jahren 0 Erfolge. In wie vielen Jahren merkt sie, dass ihre Taktik verfehlt ist?"

Außerordentlicher Parteitag der SPD in Bad Godesberg: Willy Brandt (links) im Gespräch mit dem SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer. Rechts neben Ollenhauer sitzt Herbert Wehner (Archivbild vom 13.11.1959) (Foto: Foto: dpa)

Diese Aufgabe stammt nicht aus dem Jahr 2009; es handelt sich nicht um den satirischen Antrag eines verzweifelten Genossen für den SPD-Parteitag in Dresden. Es stimmt auch nicht, dass dieser Witz vor fünfzig Jahren dazu beigetragen hat, dass die SPD ihr berühmtes Godesberger Programm schrieb.

Sozialdemokratische Trübsal

Die Rechenaufgabe stammt schon aus dem Jahr 1929. Kurt Tucholsky hat sie damals in der Weltbühne veröffentlicht. Sie passt aber ganz gut zur SPD von 1959 und zu der von 2009. Vor fünfzig Jahren war sie von der Macht so weit entfernt wie heute.

Die Heimsuchung der Sozialdemokratie durch verheerende Niederlagen ist also nichts Neues. Aber die Erinnerung an die alten, immer wieder glorreich gewordenen Zeiten taugt nicht zum Jubilieren, sondern verstärkt eher die sozialdemokratische Trübsal. Gerade die Erinnerung zeigt nämlich, was sich geändert hat. Das Feuer, das in alten Zeiten auch in Zeiten der Niederlage brannte, ist fast erloschen.

Und wenn demnächst der alte, fast 82-jährige Erhard Eppler beim Dresdner Parteitag die Rede zum goldenen Jubiläum des Godesberger Programms hält, dann wird klar, was der Partei heute fehlt: Es fehlen ihr die intellektuelle Frische und der geistige Tiefgang, welche der alte Herr verkörpert.

Wenn es um Orientierung, um Programmatik und um die große Linie der SPD geht, dann fallen einem nur über Achtzigjährige ein: Erhard Eppler eben; oder der famose Außenpolitiker Egon Bahr; oder der Parteisoldat Hans-Jochen Vogel, dessen lautere Rackerei der Partei so fehlt; oder Heiner Geißler - aber halt!, der ist von der anderen Partei.

Es ist bezeichnend für den Zustand der SPD, dass einem auf Anhieb kein großer Sozialpolitiker mehr einfällt.

Vom Charismatiker Schumacher zum biederen Ollenhauer

Die genannten alten SPD-Herren haben alle schon mitdiskutiert, als das Godesberger Programm vorbereitet wurde. Es war ein Programm, mit dem die alte, noch sehr sozialistisch geprägte SPD auf die Wahlniederlagen gegen Adenauer bei den Bundestagswahlen von 1953 und 1957 reagierte.

Der charismatische Parteichef Kurt Schumacher, ein leidenschaftlicher Redner, war 1952 an den Spätfolgen seiner KZ-Haft gestorben. Sein Nachfolger, der biedere Erich Ollenhauer, verstand es nicht, der Partei eine neue Richtung zu geben und der Adenauer-CDU Paroli zu bieten.

In dieser Situation entfalteten sich die alten, basisdemokratischen Kräfte der SPD: Nach jahrelangen Vorbereitungen wurde im April 1958 ein Gesamtentwurf eines neuen Programms vorgelegt, als Verwandlungsprogramm für die Partei.

SPD-Granden in Godesberg: (v.l.): Willy Brandt, Karl Schiller, Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Hans-Jürgen Wischnewski (Foto: Foto: dpa)

Im Sommer wurde es an alle Parteimitglieder verschickt und sodann landauf und landab, in allen Ortsverbänden und in Parteigliederungen wie verrückt diskutiert.

Es wurden neue Papiere geschrieben und wieder zerrissen, Thesen zusammengefasst, verworfen und neu modelliert. Eine Redaktionskommission geleitet vom Journalisten Fritz Sänger entfernte "verbalradikale Restbestände", und Herbert Wehner führte Regie.

Der Gärungsprozess verwandelte die SPD von einer Arbeiterpartei in eine Volkspartei: Beim Finale, dem Parteitag in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959, war es immer wieder Wehners Satz "Glaubt einem Gebrannten", der die Kritiker vom linken Parteiflügel einlenken ließ.

Nichts war inszeniert, es gab einen authentischen Dialog. Mit 324 gegen 16 Stimmen wurden am 15.November das Programm verabschiedet und der "demokratische Sozialismus" propagiert.

Keine letzten Wahrheiten

Als dessen Wurzeln werden die christliche Ethik, der Humanismus und die klassische Philosophie genannt. Der Hinweis auf den Marxismus fehlt, der in allen früheren Programmen eine wichtige Rolle gespielt hatte. Das neue Programm wollte keine "letzten Wahrheiten" mehr verkünden. Der Sozialismus wurde nicht mehr als ein durch Evolution oder Revolution zu erreichendes Endziel verstanden, sondern als permanenter Prozess.

Die neue Politik zahlte sich in stetigem Stimmenzuwachs aus: Die SPD gewann in der Mittelschicht neue Wähler. Herbert Wehner war der "parteiinterne Motor der Verwandlung", Willy Brandt "ihr charismatischer Exponent", wie dies Kurt Sontheimer formulierte. Brandt blieb Vorsitzender, obwohl die SPD 1961 und 1965 die Union als Regierungspartei noch nicht ablösen konnte. Die Partei hatte mehr Geduld damals, und ihre Chefs hatten mehr Durchhaltevermögen.

Sozialismus sei, so steht es im Godesberger Programm, die dauernde Aufgabe, "Freiheit und Gerechtigkeit zu erkämpfen, sie zu bewahren und sich in ihnen zu bewähren". Wie das geht, muss die SPD neu herausfinden. Diese Rechenaufgabe steht jetzt auf dem Programm des Parteitags. Und die Agenda 2010 als heimliches Parteiprogramm der vergangenen zehn Jahre steht vor der Ablösung.

© SZ vom 09.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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