Deutschland:Drunter und drüber in der Asylpolitik

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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer und der SPD-Chef Sigmar Gabriel am 5. November 2015 im Bundeskanzleramt (Foto: dpa)

Seit einem Jahr ringt die Koalition um den richtigen Umgang mit Flüchtlingen. Die Position der Kanzlerin ist nicht die der Union, der Innenminister trifft einsame Entscheidungen und die SPD kämpft um ein eigenes Profil.

2014

9. Oktober: Auf dem Rat der Justiz- und Innenminister der Europäischen Union in Luxemburg sagt Innenminister Thomas de Maizière (CDU): "Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat Europa nicht mehr solche Flüchtlingszahlen erlebt." Von Januar bis September 2014 haben insgesamt 136 039 Personen in Deutschland Asyl beantragt, darunter 116 659 als Erstanträge und 19 380 als Folgeanträge.

1. November: Angesichts der zunehmenden Zahlen von Flüchtlingen aus dem Bürgerkriegsland Syrien werden die Einzelfallprüfungen für Syrer fast vollständig ersetzt durch den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Damit steht ihnen das Recht auf einen Aufenthalt von zunächst drei Jahren und Familiennachzug zu. Zuvor hatten bereits 70 Prozent der syrischen Flüchtlinge Schutz nach der Genfer Konvention erhalten.

2015

1. Januar: Ein Gesetz tritt in Kraft, in dem die Residenzpflicht für Asylbewerber und geduldete Ausländer gelockert wird. Nach der Erstaufnahmezeit soll es vorrangig Geld- statt Sachleistungen geben. Die Arbeitsaufnahme wird für einige Ausländer erleichtert.

1. August: Die Reform des Aufenthaltsrechts tritt in Kraft. Ausländer, die bislang nur geduldet wurden, erhalten ein Bleiberecht, wenn sie sich schon acht Jahre (mit minderjährigen Kindern sechs Jahre) in Deutschland aufhalten - wenn der Lebensunterhalt gut gesichert ist und sie die Sprache ausreichend beherrschen. Menschen, denen kein Aufenthaltsrecht zusteht, sollen schneller abgeschoben werden. Auch werden die Möglichkeiten erweitert, abgelehnte Asylbewerber zu inhaftieren.

Bundeskanzlerin
:Flüchtlingsmädchen streichelt Merkel

Die hölzerne Reaktion der Kanzlerin auf das Schicksal eines Flüchtlingsmädchens hat viele Menschen wütend gemacht. Die 14-Jährige selbst nimmt Merkel in Schutz - und bleiben darf sie vielleicht auch.

25. August: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) twittert, dass das sogenannte Dublin-Verfahren für Syrer ausgesetzt wird. Flüchtlinge müssen nun nicht mehr befürchten, in das Land zurückgeschickt zu werden, in dem sie zuerst den Boden der Europäischen Union betreten haben. Johannes Dimroth, Sprecher des Innenministers, begründet dies später damit, dass das BAMF "verfahrenstechnische Engpässe" überwinden musste.

Zwei Tage später begründet Bundeskanzlerin Merkel die Entscheidung mit dem Versagen des Dublin-Verfahrens: "Wir dürfen nicht die Bürokratie Triumphe feiern lassen", sagt sie bei einem Besuch in Wien. Die Ankündigung des BAMF gilt als einer der Gründe für den deutlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland.

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31. August: Auf der Sommerpressekonferenz sagt Angela Merkel: "Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das! Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden. Der Bund wird alles in seiner Macht Stehende tun - zusammen mit den Ländern, zusammen mit den Kommunen -, um genau das durchzusetzen." Darüber hinaus sagt sie, es sei der Eindruck entstanden, "wenn ein Syrer nach Deutschland kommt und sich als Syrer ausweisen kann, dann ist er in Deutschland willkommen. Das entspricht auch der faktischen Lage".

Nacht zum 5. September: Bundeskanzlerin Angela Merkel vereinbart mit Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann, dass Flüchtlinge aus Ungarn über Österreich nach Deutschland einreisen dürfen.

5./6. September: An diesem Wochenende allein kommen erstmals Zehntausende Flüchtlinge aus Ungarn über Österreich nach Deutschland. Angela Merkel teilt dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit, dass es sich um eine "Ausnahme" handle aufgrund der Notlage der Flüchtlinge an der ungarischen Grenze. In den Wochen danach kommen weitere Zehntausende Flüchtlinge über die Balkanroute nach Deutschland. Die CSU und später auch Mitglieder der CDU kritisieren die Entscheidung Merkels heftig. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl lobt das Vorgehen der Kanzlerin dagegen als "großartigen Akt der Humanität".

13. September: Deutschland führt an der Grenze zu Österreich wieder Kontrollen ein, um Schlepper zu stoppen und die Einreise von Flüchtlingen zu organisieren. Innenminister Thomas de Maizière sagte, die Maßnahme sei erforderlich, um wieder "zu einem geordneten Verfahren" zu kommen und den "Zustrom nach Deutschland zu begrenzen". In der ARD sagte der Minister, die "Dinge" seien zuvor "aus dem Ruder" gelaufen.

Bereits vor dem ersten September-Wochenende kommen Hunderte Flüchtlinge nach Deutschland - wie hier nach München. Danach steigt die Zahl deutlich an. (Foto: Stephan Rumpf)

14. September: SPD-Chef Sigmar Gabriel schreibt in einem Brief an seine Parteimitglieder, dass er mit einer Million Flüchtlinge im Jahr 2015 rechnet.

15. September: Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederholt bei einem Treffen mit Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann in Berlin ihre Überzeugung: "Ich sage wieder und wieder, wir können das schaffen, und wir schaffen das."

7. Oktober: Kanzleramtsminister Peter Altmaier wird Gesamtkoordinator der Bundesregierung in der Flüchtlingskrise. Damit übernimmt Merkels Amtschef einen Teil der Aufgaben des Innenministers Thomas de Maizière.

"Ich sage es wieder und wieder, wir können das schaffen." Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann im Bundeskanzleramt in Berlin (Foto: dpa)

21. Oktober: Das Innenministerium weist die Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration an, das Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge wieder anzuwenden. Die Entscheidung wird nicht öffentlich bekannt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihr Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier (CDU) und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) werden nicht informiert. Die Behörde muss nun wieder prüfen, wie ein syrischer Flüchtling eingereist ist, dann muss sie ein Übernahmeersuchen an den EU-Mitgliedstaat stellen, in dem der Flüchtling die EU erstmals betreten hat.

24. Oktober: Die Neuregelungen des Asylpakets treten in Kraft. Die Verfahrensdauer soll beschleunigt, abgelehnte Asylbewerber sollen schneller abgeschoben, Sozialleistungen eingeschränkt und mehr Sachleistungen ausgegeben werden. Einige der Regeln, die am 1. Januar 2015 gelockert wurden, werden nun wieder gestrafft. Der Bund übernimmt einen größeren Teil der Kosten für Asylbewerber. Der Bau winterfester Flüchtlingsunterkünfte soll beschleunigt werden. Albanien, Kosovo und Montenegro gelten nun als sichere Herkunftsländer.

1. November: Die Koalitionsspitzen sind uneins über die Asylpolitik. Nach einem ergebnislosen Treffen zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Horst Seehofer (CSU) und Sigmar Gabriel (SPD) stellen nur die Unionspolitiker ein Positionspapier vor. Die Union will Transitzonen zur Registrierung und raschen Abschiebung von Flüchtlingen an der Grenze. Die SPD lehnt das ab, weil Transitzonen ihr zufolge nur mit der Inhaftierung von Flüchtlingen durchzusetzen wären.

2. November: Innenminister Thomas de Maizière weist die Mitarbeiter des BAMF an, syrische Staatsangehörige nicht mehr pauschal unter den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention zu stellen, sondern die Einzelfallprüfung wieder aufzunehmen und Syrern gegebenenfalls subsidiären Schutz zuzusprechen. Diesen Schutz bekommen Menschen, die kein Asyl oder einen Flüchtlingsstatus erhalten, die aber in ihrer Heimat ernsthaft bedroht sind. Konsequenz dieses schwächeren Schutzstatus wäre eine Aufenthaltsbewilligung von nur einem Jahr. Die Entscheidung wird zunächst nicht bekannt.

5. November: Die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD beraten im Kanzleramt über die Asylpolitik. Die Koalition einigt sich unter anderem auf ein beschleunigtes Asylverfahren, einen einheitlichen Flüchtlingsausweis, ohne den weder Asyl noch Geld- oder Sachleistungen beantragt werden können, eine Wiedereinführung einer strengeren Residenzpflicht für einige Flüchtlinge - und darauf, dass bei Menschen mit subsidiärem Schutz der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt wird. Die Sozialdemokraten wissen offenbar nicht, dass dies nun auch für syrische Flüchtlinge gelten soll.

6. November: Innenminister Thomas de Maizière spricht im Deutschlandfunk über die Entscheidung, syrischen Flüchtlingen nicht mehr pauschal den Status gemäß Genfer Konvention zuzusprechen. Nach massiver Kritik insbesondere der SPD wird die Weisung zurückgenommen.

8. November: Der Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, Kanzleramtsminister Peter Altmaier, erklärt die Debatte für beendet. CDU, CSU und SPD hätten gemeinsam eine "kurze Phase der Irritation" überwunden, sagt er im Deutschlandfunk. Die Syrer würden weiterhin so behandelt wie bisher.

Am selben Tag stellen sich allerdings Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), CSU-Chef Horst Seehofer sowie mehrere stellvertretende CDU-Vorsitzende ausdrücklich hinter die Forderung des Innenministers. "Thomas de Maizière hat recht. Wir müssen wieder nach dem Gesetz handeln und den Flüchtlingsstatus jedes Syrers genau prüfen", sagt Seehofer der Süddeutschen Zeitung. SPD-Chef Sigmar Gabriel lehnt dies im "Bericht aus Berlin" ab.

Asylpolitik
:Was de Maizières Vorschläge für Syrer bedeuten

Asyl gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention oder subsidiärer Schutz: Diese Kategorien haben große Bedeutung für die Flüchtlinge in Deutschland und ihre Angehörigen. Was steckt dahinter?

Von Roland Preuß

10. November: Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert, dass die Frage, ob syrische Flüchtlinge nur subsidiären Schutz mit eingeschränktem Familiennachzug erhalten sollen, von den Innenministern von Bund und Ländern diskutiert werden muss. Thomas de Maizière erklärt im Bundestag, warum seit dem 21. Oktober das Dublin-Verfahren für syrische Flüchtlinge wieder zur Anwendung kommt: "Deutschland hat das Verfahren von Dublin zu keinem Zeitpunkt rechtlich ausgesetzt." Dass die Entscheidung vom Oktober jetzt erst bekannt werde, liege daran, dass es erst jetzt eine Medienanfrage gegeben habe.

12. November: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble warnt davor, dass sich die Flüchtlingsbewegung nach Deutschland und anderen europäischen Staaten zu einer " Lawine" ausweiten könnte. Vom Koalitionspartner wird er dafür kritisiert. Bundesjustizminister Heiko Maas wirft Schäuble vor, "Öl ins Feuer" zu gießen. "Menschen in Not sind keine Naturkatastrophe.

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