Direkte Demokratie:"Ich bin dafür, dass wir dagegen sind"

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Brexit-Anhänger auf der Themse kurz vor der Abstimmung. (Foto: dpa)

Die Frage, was ein Volk entscheiden soll, ist seit dem Brexit brennender denn je. Für den Sozialwissenschaftler Frank Decker sind Referenden ein Irrweg. Das könnte man auch anders sehen.

Rezension von Wolfgang Freund

Volksgesetzgebung - über totales Denken zu totaler Aktion? Solcherart scheint Frank Deckers totale Sorge zu sein. Das ehrt ihn und seine gelehrte Fleißarbeit. Wir verdanken dem Politologen der Universität Bonn zutreffende Einsichten in die "Volksgesetzgebungsproblematik" aus deutsch-bundesrepublikanischer Sicht.

Natürlich steht die Plebiszit- oder Referendumsfrage in Deutschland nach wie vor im Schatten dessen, was Weimarer Republik und das aus ihr hervorgegangene "Dritte Reich" aus der "Volksgesetzgebung" gemacht hatten: Ebnung der Wege in eine der schlimmsten Diktaturen, die die Menschheit je gekannt hat. Leider greift der Autor kaum über das deutsche Kultur- und Politikfeld hinaus, vom schweizerischen Beispiel, das ebenfalls ständig bemüht wird, abgesehen.

Und bingo! Da sind wir schon bei Gustave Le Bon (1841-1931), dem französischen Säulenheiligen der Massenpsychologie, dessen "Psychologie des foules" (1895) in Deckers Literaturverzeichnis nicht erscheint. Und wäre es nur, um an den darin enthaltenen Satz zu erinnern: "Wenig fähig zum Denken sind Massen, aber jederzeit bereit zum Losschlagen."

Oder um den Problemkreis mit einer schwarz-weiß ausgerichteten rhetorischen Frage aus der eidgenössischen politischen Landschaft einzugrenzen: "Wäär isch d'rfüür, wäär isch d'rgägge? " (= wer ist dafür, wer ist dagegen?).

Bei den Elsässern wiederum hörte sich das, vor allem während der ersten Jahre nach 1945 unter dem Banner der adenauerisch-gaullistischen deutsch-französischen Freundschaft, wie folgt an: "Ich bin dafür, dass wir dagegen sind, und wenn dann allesamt dagegen sind, dann mein Freund, sind wir dafür!"

Immer geht es um die Beeinflussung von Massen, sie möchten doch bitte in Richtung "hü!" oder "hott!" aufjubeln. Es kam natürlich auch vor, dass "Massen" sich auf ganz besonderer Ebene hatten einspannen lassen, wie damals am 18. Februar 1943, zwei Wochen nach der Stalingrad-Niederlage, als Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast die plebiszitähnliche Frage gestellt hatte: "Wollt ihr den totalen Krieg?" Die anwesenden Massen wollten ihn, und, man stelle sich vor, sie bekamen ihn sogar!

Reduktion auf "Ja" oder "Nein" kann sehr problematisch sein

Damit ist die Kernproblematik dessen, was Frank Decker im Einzelnen beunruhigt, umrissen. Aber man würde diesem Sozialwissenschaftler großes Unrecht tun, beließe man die Diskussion zum Thema auf der rein polemischen Ebene. Kritikwürdig erscheint indessen auch ein von Decker intensiv gepflegter Wisenschafts-Slang, der Nichtmitgliedern dieses akademischen Klubs da und dort Verstehensprobleme bereiten könnte.

Die Dekodierung einiger spontan nicht verständlicher Tabellen mögen dem potentiellen Leser eine nachrichtendienstliche Grundausbildung nahelegen nach dem Motto: "Mein Forschungsbereich ist so geheim, dass ich selbst nicht genau weiß, was ich da erforsche."

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Von Thorsten Denkler

Immerhin, ein Epizentrum der Plebiszit- oder Referendumsfrage ist angesprochen. Gerade was Anfang Oktober 2016 in Ungarn oder in Kolumbien ablief - ja auch die Brexit-Show - gehört dazu. Das Votum der Massen, auf den "schwarz-weißen" Punkt gebracht, kann eine auf höherer, mehr oder minder "demokratischer" Ebene erfolgte "politische" Entscheidung erschüttern oder gar in sich zusammenfallen lassen.

Die Dinge treiben danach in die gute oder schlechte Richtung, je nach Ereignis, pardon: "Event", wie es heute heißt. Es ist wie beim Roulette, wenn ein Spieler sein ganzes Kapital auf Schwarz oder Rot setzt. Er gewinnt oder verliert alles, unwiderruflich.

Die Ausgangslage ist, so "das gesunde Volksempfinden", fifty-fifty, doch "Spielbankmathematiker" wissen es besser. Die Bank hat einen strukturellen Vorteil und gewinnt letztlich immer, vergleichbar dem Anstifter eines Referendums.

Frank Decker zitiert gerne - Frank Decker. Im umfangreichen Literaturverzeichnis findet er sich neunfach wieder. Das ist beachtlich. Sein französischer Kollege, Altersgenosse und spezifischer Fachmann in Sachen Referendum, Yves Sintomer von der Université Paris-VIII, Jünger von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Spezialgebiet Démocratie participative, von dem auch Einiges zum Thema in deutscher Übersetzung vorliegt, wird von Decker nicht erwähnt.

Auch kein anderer Franzose zur Sache, obwohl das Thema "Referendum" linksrheinisch ein politischer Dauerbrenner ist. Doch den deutsch-französischen wechselseitigen Durchdringungen geht es auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten schon nicht besonders gut. Das erklärt aber nicht alles; denn Decker und Sintomer stehen sich inhaltlich-konzeptuell diametral gegenüber.

"Volksgesetzgebung" ist für Frank Decker eine gefährliche Tendenz, ein "Irrweg", wie schon der Titel des Buches suggeriert, während diese bei Yves Sintomer in den Werkzeugkasten funktionstüchtiger Demokratien gehört.

Ist es vielleicht so, dass die Linksrheinischen damit umgehen können, das heißt avec modération wie beim Weingenuss, während die Rechtsrheinischen "volksgesetzgebend" eher in den Le Bon'schen Exzess verfallen, um "Aktion" statt Nachdenken zu rechtfertigen?

Frank Decker: Der Irrweg der Volksgesetzgebung. Eine Streitschrift. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Bonn 2016. 184 Seiten. 16,90 Euro. (Foto: N/A)

Resümieren wir eidgenössisch: In der Schweiz wurde in einem viel beachteten und diskutierten Referendum am 29. November 2009 entschieden, dass keine neuen Minarette für bestehende oder zu errichtende Moscheen gebaut werden dürfen.

Kurz danach erschien eine Karikatur in der linksliberalen israelischen Tageszeitung Haaretz: Jodler A fragt Jodler B (eine Moschee im Vorder-, weidende Kühe und Alpen im Hintergrund): "Darf man bei uns Minarette bauen?" Darauf B zu A: "Ja, unter der Voraussetzung, dass sie ganz aus Schokolade gemacht sind!"

Frank Deckers "Irrweg der Volksgesetzgebung" gehört in jede gut geführte politikwissenschaftliche Bibliothek. Das Buch ist nicht aus Kakao, sondern aus Papier gemacht.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Er lebt heute in Südfrankreich.

© SZ vom 21.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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