Demjanjuk-Prozess:Eine Reise durch die Finsternis

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Am Montag beginnt in München der NS-Prozess gegen John Demjanjuk. Jules Schelvis, der Sobibor und Auschwitz überlebt hat, ist einer der Nebenkläger.

Robert Probst

Jules Schelvis schöpfte keinen Verdacht. Es war eine lange, vier Tage dauernde, anstrengende Fahrt gewesen, in Viehwaggons vom Lager Westerbork in den Niederlanden immer Richtung Osten. "Ich dachte, wir kommen in ein Arbeitslager", sagt Schelvis, heute 88.

Jules Schelvis' Frau Rachel starb am 4. Juni 1943 im Vernichtungslager Sobibor in Ostpolen, nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft. (Foto: Foto: AFP)

Am Zielort sahen die Juden einen ordentlichen Bahnhof und ein paar Häuschen im alpenländischen Stil, Geranien auf den Fensterbrettern. "Das sieht ja nicht so schlimm aus", dachte Schelvis noch. Doch das gehörte nur zur perfiden Verschleierungstaktik der Nazis. Auf dem kleinen Bahnhof prangte der Name Sobibor. Es war der 4. Juni 1943.

Ein paar Stunden später waren fast 3000 Menschen, die mit diesem Transport angekommen waren, tot. Darunter Rachel, die Frau von Jules Schelvis. Vergast in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis. In der kurzen Zeit seines Bestehens vom Frühjahr 1942 bis Oktober 1943 wurden in Sobibor - gelegen am Fluss Bug im deutsch besetzten Ostpolen in der Nähe der Stadt Chelm - bei der "Aktion Reinhardt" etwa 250.000 Juden ermordet, sehr viele von ihnen aus den Niederlanden.

Beihilfe zum Mord an 27.900 Juden

An diesem Montag beginnt in München der Prozess gegen John (Iwan) Demjanjuk, 89. Der gebürtige Ukrainer soll in eben diesem Vernichtungslager in der Zeit von Ende März bis Mitte September 1943 Beihilfe zum Mord an 27.900 Juden geleistet haben, als "Hilfswilliger" der Nazis. So sieht es die Staatsanwaltschaft München.

Jules Schelvis will auch nach München kommen, er ist einer von fast 40 Nebenklägern. Alle Nebenkläger haben Angehörige in diesem Todeslager verloren, doch Schelvis ist eines der ganz wenigen noch lebenden NS-Opfer, die selbst in Sobibor gewesen sind.

Das Lager wurde von etwa 30 deutschen SS-Angehörigen und bis zu 150 ukrainischen Wachmännern betrieben. Diese Rotarmisten, die während des Russlandfeldzugs in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren, wurden im Lager Trawniki zu "Hilfswilligen" der SS ausgebildet. Inwieweit sich die Ukrainer freiwillig für die Kollaboration entschieden, ist stark umstritten; ebenso, ob sie in den Vernichtungslagern die Möglichkeit hatten, die Arbeit zu verweigern oder gar zu desertieren.

In Sobibor wurden aber auch einige hundert Juden zur Arbeit für die Deutschen gezwungen - überleben sollte allerdings keiner dieses geheime Vernichtungswerk. Daher entschlossen sich einige dieser Arbeitsjuden zum Aufstand - am 14.Oktober 1943 gelang es etwa 350 von ihnen, einige Deutsche zu töten und zu entkommen. Nur 53 überlebten das Kriegsende; die Nazis machten daraufhin Sobibor dem Erdboden gleich und vernichteten fast alle Dokumente.

Jules Schelvis, ein damals 21 Jahre alter Druckerlehrling aus Amsterdam, wurde im Mai 1943 zusammen mit seiner Frau Rachel aus dem Judenviertel von Amsterdam geholt; die deutschen Besatzer sprachen von einem Arbeitseinsatz im Osten. In Sobibor trennte die SS Frauen und Männer. Schelvis meldete sich zu einer Gruppe von 80 Männern, die die SS abseits von den anderen Juden zusammengestellt hatte. Nach wenigen Stunden Aufenthalt marschierte diese Gruppe aus dem Lager.

Das Letzte, was Schelvis hörte, war, wie die SS-Männern den Zurückgebliebenen eine "Dusche im Badehaus" versprachen. Wie die anderen Überlebenden hat Schelvis den Wachmann Demjanjuk nicht wahrgenommen. Doch es gebe auch so "genug Beweise, dass Demjanjuk in Sobibor war", findet Schelvis.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Jules Schelvis in Demjanjuk sieht.

An jenem Tag starben Rachel und ihre Familie in der Gaskammer, 41 Familienangehörige hat Schelvis im Holocaust verloren. Er erfuhr erst später von polnischen Juden, was Sobibor eigentlich war: ein Lager, in das viele Transporte hineinfuhren - und kein einziger heraus.

Jules Schelvis hat zwei Bücher über das Vernichtungslager Sobibor verfasst. (Foto: Foto: AFP)

Schelvis' Gruppe wurde zum Torfstechen in ein nahegelegenes Arbeitslager verschleppt - dies rettete ihm das Leben. Nach einer langen Odyssee durch zahlreiche KZs, darunter Auschwitz, wurde er Anfang April 1945 von den Franzosen im KZ Vaihingen an der Enz befreit. Gleich danach hat Schelvis seine Erlebnisse detailliert aufgeschrieben - auf der Rückseite von deutschen Formularen. Doch geredet hat er jahrzehntelang nicht über sein Trauma.

Erst in den achtziger Jahren, nach seiner Frühpensionierung als Betriebsleiter einer Druckerei, "bin ich wieder in die Geschichte geraten". Schelvis sammelte Fakten, führte Interviews mit Überlebenden des Aufstands, wurde zum Experten. Und fuhr dann nach Deutschland, wo er als Nebenkläger in einem Sobibor-Prozess auftrat.

In Hagen wurde 1965/66 gegen zwölf ehemalige SS-Männer von Sobibor verhandelt, es gab einmal lebenslänglich, ein paar Haftstrafen zwischen drei und acht Jahren - und fünf Freisprüche wegen Befehlsnotstands. In einem Revisionsverfahren in den achtziger Jahren gegen die lebenslängliche Strafe des einstigen SS-Oberscharführers Karl Frenzel war Schelvis dabei. Von ukrainischen Wachmännern ist in diesen Prozessen nie die Rede gewesen.

Ein "alter, kranker Mann"

Jules Schelvis sieht in Demjanjuk einen "alten, kranken Mann". Doch das Recht, sagt er, " muss seinen Lauf nehmen". Ihm ist wichtig, dass ein Urteil gefällt wird, "die Strafe ist egal". Er sei nicht auf Rache aus, vielmehr darauf, dass den Menschen bewusst werde, was während der NS-Zeit in den Vernichtungslagern vor sich ging. Unermüdlich reist Schelvis noch immer durch Europa und berichtet vor Jugendlichen vom Grauen des Holocaust.

Zweimal im Jahr organisiert er eine Gedenk- und Studienreise nach Sobibor; dafür gibt es eine eigene Stiftung. "Das ist meine Aufgabe, ich bin einer der wenigen, die noch davon erzählen können", sagt Schelvis. Er hat zwei Bücher über das Lager, von seiner "Reise durch die Finsternis" verfasst, und wurde Ehrendoktor der Universität Amsterdam. Es gebe noch so viel zu tun, sagt Schelvis, "aber ich werde älter und älter".

Erst im März ist Jules Schelvis mit seiner Zeugenaussage an der Reihe. Er wird dann schon 89 Jahre alt sein.

© SZ vom 28.11.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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