Das neue Lateinamerika:Befreiender Stolz

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Ein ehemaliger Krisenkontinent hat eine Dekade der Entwicklung hinter sich, nun ist er erstmals in seiner Geschichte wirklich stolz auf sich. Die Demokratien sind zumeist stabil, die Wirtschaft boomt, Europa bittet schon um Hilfe. Wie der einstige Verliererkontinent die historische Wende geschafft hat.

Sebastian Schoepp

Argentinien enteignet den Ölmulti Repsol, Brasilien mischt sich ungefragt in den Atomstreit des Westens mit Iran ein, Kolumbiens konservativer Präsident fordert die USA auf, die Kuba-Blockade aufzugeben. Lateinamerikanische Politiker treten derzeit mit einem nie gekannten Selbstbewusstsein auf die Weltbühne.

Neues Selbstbewusstsein in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft offenbart sich in Brasilien - das Land gehört zu den großen Gewinnern des lateinamerikanischen Aufschwungs (Symbolbild). (Foto: AFP)

Das ist Konsequenz einer Entwicklung, die dem einstigen Krisenkontinent noch vor einer Dekade kaum jemand zugetraut hätte. Lateinamerikaner sind zum ersten Mal in ihrer Geschichte stolz auf sich. Innerhalb weniger Jahre haben viele Länder ihre Diktaturen abgeschüttelt und deren Schergen abgeurteilt, und zwar ohne UN-Sicherheitsrat, Blauhelme oder Weltgerichtsbarkeit. Die Demokratien sind fast überall fest etabliert, manche Staatschefs erreichen bei Wahlen Zustimmungsraten, von denen europäische Politiker nur träumen können. Die Wirtschaft, früher Lateinamerikas Hauptproblem, boomt.

Was ist da passiert? Wie konnte sich ein Kontinent so entwickeln, der früher für Chaos, Kriege und Krisen bekannt war? Lateinamerikaner fühlten sich nach der Unabhängigkeit fast 200 Jahre lang als Randfiguren des Weltgeschehens, die es allenfalls durch gelegentliche Fußballsiege oder Literatur-Nobelpreise ins Rampenlicht schafften.

Es waren die Nobelpreisträger Gabriel García Márquez aus Kolumbien und Octavio Paz aus Mexiko, die den Begriff der "Einsamkeit" als Leitmotiv für das lateinamerikanische Selbstbild einführten. Sie beschrieben den Halbkontinent als eine Welt, in der die Magie tiefgreifenden Einfluss auf die Wahrnehmung der Realität durch die Menschen besitzt, als eine vom technischen Fortschritt abgeschnittene Region, die zum Verhökern seiner Rohstoffe gezwungen ist. "Lateinamerika hat sich im Verlieren spezialisiert", schrieb der Uruguayer Eduardo Galeano 1971 in seinem monumentalen Essay "Die offenen Adern Lateinamerikas."

Die Emanzipation begann am 11. September 2001

In der Tat beginnt Lateinamerikas Emanzipation in einem Moment besonders großer Einsamkeit: Nach den Attentaten des 11. September 2001 richten die USA, die seit der Monroe-Doktrin von 1823 die Geschicke in ihrem südlichen geopolitischen Hinterhof interventionistisch bestimmten, ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten. Plötzlich gilt nicht mehr der schnurrbärtige Guerillero als Bedrohung des American Way of Live, sondern Taliban und andere Turbanträger.

Vieles spricht dafür, dass Lateinamerika diesen Moment der Einsamkeit gut genutzt hat. Es bekommt einen nie dagewesenen Spielraum, aus den Fehlern der Vergangenheit Schlüsse zu ziehen und seinen eigenen Weg aus der Misere zu finden - eine Gelegenheit, auf die manch andere Weltgegend noch wartet.

Die Wähler in Lateinamerika nutzen diesen Spielraum, um - entgegen dem Welttrend - überwiegend linke Regierungen an die Macht zu bringen. Eine Reaktion auf die missratene Politik der vorhergehenden Jahrzehnte, in denen der Halbkontinent von Diktatoren und ihren rechtsgerichteten Nachfolgern nach strikt wirtschaftsliberalen Rezepten regiert worden war. Rezepte, die stark jenen ähneln, die heute europäischen Ländern wie Portugal oder Spanien auferlegt werden. Von Privatisierung und Staatsabbau profitierten ausländische Investoren, doch bei den Völkern Lateinamerikas hinterließen die Reformen vielfach soziales Elend, Arbeitslosigkeit, Depression und Orientierungslosigkeit . In Argentinien, Bolivien oder Ecuador leerten sich durch Auswanderung ganze Landstriche.

"Vorbild für alle, die den Weg zur Freiheit beginnen"

Unter den Präsidenten, die nach 2001 an die Macht kommen, sind viele frühere linke Oppositionelle und Dissidenten, die den Folterkellern und der Verfolgung der 1970er und 1980er Jahre entronnen waren: Michelle Bachelet in Chile, Dilma Rousseff in Brasilien, Néstor Kirchner in Argentinien, José Mujica in Uruguay - sie alle gehörten in ihrer Jugend zum Kreis oder Umkreis der Verfolgten und Verfemten. Keinen von ihnen hätte ein Richard Nixon an die Macht kommen lassen, als er Anfang der 70er Jahre als US-Präsident begann, Diktatoren in Lateinamerika als Bollwerk gegen den Kommunismus zu fördern.

Doch diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei. Als Nachfolger Barack Obama im März 2011 nach Chile reist, lobt er die demokratischen Erfolge Lateinamerikas als "Vorbild für alle, die jetzt ihren Weg zur Freiheit beginnen". Gemeint sind Völker des Nahen Ostens, die sich im arabischen Frühling gegen ihre Diktatoren erheben.

Die neue Linke ist freilich kein einheitliches Gebilde. Jede Regierung verfolgt ihre eigene Agenda, von der gemäßigten Tropen-Sozialdemokratie eines Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien bis zum populistischen "bolivarischen Sozialismus" des Hugo Chávez in Venezuela. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Sie wollen sich nichts mehr vorschreiben lassen und pochen darauf, dass der Staat in der Wirtschaft das letzte Wort hat. Finanziell profitieren sie vom Rohstoffboom. Doch anders als früher versickern die Einnahmen nicht mehr gänzlich in dunklen Kanälen, sondern werden etwa in Argentinien, Brasilien oder Uruguay zur Linderung des immer noch drängendsten Problems Lateinamerikas investiert: der sozialen Ungleichheit.

Europa klopft heute wegen Hilfe an

In Brasilien haben in Lulas Regierungszeit durch Hilfsprogramme wie Bolsa Familia 32 Millionen Menschen aus der Armut gefunden. Die neue Mittelschicht ist auch für ausländische Investoren als Konsumenten interessant, was den Handel belebt. Immer mehr deutsche Firmen suchen das Geschäft mit Kolumbien, Brasilien oder Mexiko, nachdem ihnen Indien als zu rätselhaft, Russland als zu korrupt und China als zu eifrig in der Produktpiraterie erscheint.

Der britische Economist bildet im Boomjahr 2010 die Christus-Statue in Rio de Janeiro auf der Titelseite als abhebende Mondrakete ab. Durch die Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 erwartet das Land den nötigen Schub für seine noch mangelhafte Infrastruktur. Die brasilianische Dynamik wirkt auf viele so sexy, weil sie Erfolg mit Lebensstil und unaggressivem Auftreten verbindet.

Natürlich sind die alten Probleme Lateinamerikas durch Armut, Drogenhandel und das zähe Ringen korrupter Eliten um die Macht weiterhin gewaltig. Doch niemand kann erwarten, dass das jahrhundertealte Elend in zwei, drei Amtszeiten beseitigt ist. Doch ein Anfang ist gemacht. Als die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, im November 2011 auf Betteltour durch Lateinamerika geht, um Hilfe für das krisengeschüttelte Europa zu mobilisieren, sagt ein brasilianischer Diplomat: "Früher haben die örtlichen Behörden selbst beim Besuch des nachrangigsten IWF-Vertreters gezittert. Heute kommt die Chefin, um Hilfe zu erbitten. Das ist eine historische Wende."

Sebastian Schoepp beschäftigt sich als außenpolitischer Redakteur der SZ und Buchautor mit Lateinamerika. Innerhalb der Serie "Das neue Lateinamerika" werden noch zwei weitere Texte von ihm auf Süddeutsche.de erscheinen.

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