Brexit-Debatte:Die eigentliche Frage hinter dem Brexit-Referendum

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Ein Truck der Brexit-Kampagne fährt in London über den Parliament Square. (Foto: REUTERS)

Die Abstimmung zeugt von einer gewaltigen Krise der Briten. Ihr Nationalgefühl kann sich nicht mehr aus den Erfahrungen von Empire und Weltkrieg speisen. Aber woraus dann?

Kommentar von Christian Zaschke

Wenn die Briten an diesem Donnerstag über die Mitgliedschaft in der EU abstimmen, geht es dabei nur in zweiter Linie um Europa. In erster Linie geht es um die Frage nach der britischen Identität. Während die Befürworter argumentieren, es sei im nationalen Interesse, in der EU zu bleiben, suchen die Gegner nach einer nationalen Idee. Das ist einer der Gründe dafür, warum die Zusammenstöße beider Lager so heftig waren.

Die vielleicht spannendste Frage der vergangenen Wochen war ja, was mit dieser sonst so vernunftbegabten Insel passiert ist. Wie konnte es sein, dass plötzlich mit so viel Wut und Furor, mit Lügen und Geschrei über eine Frage diskutiert wurde, die zwar wichtig ist, aber doch in ihrem Kern nüchtern erörtert werden kann? Es gibt Gründe dafür, in der EU zu bleiben, und es gibt Gründe dafür, sie zu verlassen. Man hätte die entsprechenden Argumente in Ruhe austauschen können. Das britische Parlament ist bekanntlich dazu in der Lage, beispielhaft Debatten auf höchstem Niveau zu führen. Doch die Auseinandersetzung über das Referendum war sowohl im Plenum wie auch außerhalb des Unterhauses weitgehend von Hysterie geprägt.

Die Briten suchen nach Identität, Europa ist nur ihr Opfer

Dahinter könnte eine Form der nationalen Verunsicherung stehen, die in der Europa-Frage ein Ventil gefunden hat. Großbritannien hat den Ruf, eine tolerante, vielfältige Gesellschaft zu sein, die vom common sense geleitet wird, vom gesunden Menschenverstand. Doch möglicherweise hat unter der Oberfläche eine Entwicklung stattgefunden, die lange unbemerkt geblieben war. Dass die Kampagne der EU-Gegner erst richtig Fahrt aufnahm, als sie sich auf das Thema Immigration konzentrierte, ist jedenfalls kein Zufall. Wer durchs Land reist und mit Menschen spricht, hört immer wieder, dass zu viele Fremde kämen. Das muss sich nicht unbedingt mit der Realität decken, aber das Gefühl ist unzweifelhaft da.

Den Gegnern der EU ist es gelungen, dieses Gefühl mit der Mitgliedschaft in der Union in Verbindung zu bringen. Dazu bedienten sie sich teilweise äußerst fragwürdiger Mittel. Zuletzt hatte der Chef der EU-feindlichen UK Independence Party, Nigel Farage, vor einem Plakat posiert, das syrische Flüchtlinge zeigte. "Die Grenze der Belastbarkeit" stand da in großen Lettern geschrieben. Es wurde insinuiert, dass all diese Flüchtlinge nach Großbritannien kämen, wenn das Land nicht aus der EU austrete. Das war reine Demagogie, aber sie verfängt zumindest in Teilen der Bevölkerung.

Die britische Identität, die Schottland, Wales und den protestantischen Teil Nordirlands einschließt, fußt auf der Geschichte des Empires und den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts. Sie hat die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als nationale Erzählung so lange überlebt, weil die Briten ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein besitzen. Dass sie in den vergangenen Jahren bröckelte, zeigte sich zum Beispiel am stärker werden Nationalismus in Wales und in Schottland. Was nun zutage tritt, ist ein englischer Nationalismus, der sich über die gemeinsame Geschichte erhebt und sie zugleich zurücksehnt. Vermutlich entgeht den EU-Gegnern die Volte, dass es in Wahrheit dieser spezifisch englische Partikularismus ist, der das Vereinigte Königreich an die "Grenze der Belastbarkeit" bringen könnte. Mindestens die Loslösung des europafreundlichen Schottlands ist bei einem EU-Austritt in absehbarer Zeit wahrscheinlich.

Wenn sie nach ihrer Vision für ein von Europa befreites Großbritannien gefragt werden, verweisen die EU-Gegner auf die besondere Beziehung zu den USA, die sie wieder intensiver leben könnten. Dabei übersehen sie, dass diese "besondere Beziehung" zuvörderst darin besteht, dass die Amerikaner die Briten als Brückenkopf zur EU sowie als Juniorpartner mit putzigem Akzent betrachten und ansonsten, wie der Autor Geoffrey Wheatcroft im Guardian anmerkte, sich der britischen Armee als Fremdenlegion bedienen. Außerdem wollen die EU-Gegner sich wieder verstärkt dem Commonwealth zuwenden. Doch diese Gemeinschaft von ehemaligen Staaten des Empires hat politisch keine Bedeutung mehr. Der Wunsch nach einer neuen Hinwendung entspringt der Nostalgie.

Wenn der Lärm am Donnerstag hoffentlich ein Ende hat, wenn die gegenseitigen Anschuldigungen und Beleidigungen vergeben sind, bleibt für die Briten, ganz gleich, wie das Referendum ausgeht, diese Frage: Wer sind wir? Wer wollen wir sein im 21. Jahrhundert? Die Debatte über die EU-Mitgliedschaft war oft hässlich und hat das Land von einer neuen Seite gezeigt. Aber ein Gutes hat sie eben doch gebracht, nämlich die Erkenntnis, dass das Vereinigte Königreich sich der Frage nach der nationalen Identität neu annehmen muss. Im Idealfall in einer beispielhaften Debatte auf höchstem Niveau.

© SZ vom 22.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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