Berlins Bürgermeister:"Herr Müller, ich finde Sie spannend!"

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Politiker ohne Poker-Face: Ist Michael Müller unter Druck, sieht man es ihm an, fühlt er sich sicher, dann genießt er Auftritte - so wie zur Zeit. (Foto: Getty Images)

Berlins Regierender Bürgermeister galt als farbloser Griesgram an der Spitze einer überforderten Koalition. Seit er sich zu Hartz IV geäußert hat, ist sein Ansehen plötzlich auch auf Bundesebene gestiegen.

Von Jens Schneider, Berlin

Am Anfang fühlte es sich an wie eine politische Eintagsfliege. Als wollte dieser wenig beliebte Herr Müller aus Berlin es mal mit einer Idee auf Bundesebene versuchen, die kurz aufflackern und danach vergessen werden würde. Es war Ende Oktober 2017, die SPD hatte bei der Bundestagswahl die schlimmste Niederlage ihrer Geschichte erlitten. Genossen forderten den Rücktritt des Landesvorsitzenden Michael Müller. Er sprach von einer "Vertrauenskrise auf allen Ebenen". So war die Stimmung, als der Regierende Bürgermeister einen Vorschlag machte, der sofort Spott auslöste. Müller wolle von hausgemachten Problemen und der Funktionärsrevolte in seiner SPD ablenken, mokierte sich Berlins CDU-Generalsekretär Stefan Evers.

Aber die Eintagsfliege erfreut sich großer Lebensfreude. Müller hat einen Nerv getroffen mit dem Vorschlag, ein "solidarisches Grundeinkommen" einzuführen. 15 Jahre nach der Agenda 2010 solle "Schluss mit Hartz IV" sein. Es habe nie eine gesellschaftliche Akzeptanz dafür gegeben, so Müller über die Reform, die für seine SPD zu einem Trauma geworden ist.

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Sein Vorstoß löst bundesweit Ablehnung ebenso wie Lob aus, wird debattiert, auch ein halbes Jahr später: Müller verfasst Gastbeiträge in Zeitungen, wird ins Fernsehen eingeladen. Bei n-tv in dieser Woche wurde er vom Gastgeber Louis Klamroth mit den Worten begrüßt: "Herr Müller, ich finde Sie spannend!"

Er wollte bundespolitisch Akzente setzen, doch fand kein Thema

Spannend, das hat er nicht oft gehört in seiner langen politischen Karriere als Gewächs der Berliner SPD, über deren Biotop hinaus Müller bisher stets dann beachtet wurde, wenn etwas schiefging in der Hauptstadt. Davon gab es mehr als genug, von den Pannen der ewigen Baustelle für den Hauptstadtflughafen BER bis zu den unzulänglichen Bürgerämtern. Sein rot-rot-grüner Senat startete Ende 2016 mit Pannen und Streit. Müller galt als Griesgram an der Spitze einer überforderten Regierung, die nach Jahren des Sparkurses zwar genug Geld hat für Investitionen in marode Schulen und Straßen, die Bauprogramme aber nicht umsetzen konnte.

Im Herbst ging Müller in die Offensive. "Lasst euch von meinem Gesicht und den Mundwinkeln nicht abschrecken", rief er seinen Genossen auf einem Parteitag im November zu. "Ich sehe immer so aus, wird auch nicht besser!" Kritik an ihm sei willkommen, er forderte eine offene Debatte. Auch auf dem Parteitag stellte er seinen Vorschlag zur Diskussion. Berlins SPD, die besonders gern um sich selbst kreist, scherte sich wenig darum. Müller machte weiter, suchte Bündnisgenossen, lud Bürger zu einem Gesprächskreis ins Rote Rathaus, mit Experten wie dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. Das DIW rechnete den Vorschlag durch, er sei bezahlbar. Doch auch wer ihn ablehnt, muss sich auf Müller beziehen. In Berlin wurde die Arbeitssenatorin Elke Breitenbach von der Linken jetzt von Bild gefragt, ob Müller ihrer Partei das Thema geklaut habe.

Auffällig ist, dass der Regierende Bürgermeister auch in der Landespolitik im Sozialen Akzente setzen will. So könnte nach den Plänen des Senats eine Familie mit mittlerem Einkommen auf monatliche Einsparungen von 150 Euro zählen - durch bevorstehende Entlastungen bei Kita-Kosten oder dem Wegfall des Eigenanteils für Schulbücher für Grundschüler. "Mir geht es um die Entlastung der arbeitenden Mitte", sagt Müller. "Wir müssen uns Gedanken machen, welche Instrumente und Möglichkeiten wir haben."

Der 53-Jährige hat den Versuch eines Befreiungsschlags gezielt gesetzt. Er musste etwas tun. Angesichts seiner verheerenden persönlichen Umfragewerte rechneten manche Sozialdemokraten schon damit, dass Müller bald abgelöst werden könnte. Inzwischen geriet allerdings sein potenzieller Nachfolger Raed Saleh selbst in Bedrängnis. Der SPD-Fraktionschef wurde aus den eigenen Reihen scharf kritisiert und muss um sein Amt kämpfen.

Der Spott wird ihn weiter begleiten

Müller hatte schon länger die Absicht, bundespolitisch Akzente zu setzen. Lange fand er kein Thema. Nun wirkt sein Vorstoß zum Grundeinkommen wie ein Neustart auf höherer Ebene, der dem 53-Jährigen daheim nutzen könnte, vielleicht: Ein Indiz ist eine Forsa-Umfrage aus dieser Woche im Auftrag der Berliner Zeitung, wonach er in der Rangliste der beliebtesten Politiker Berlins zwar keinen grandiosen Wert erreicht, aber immerhin zugelegt hat.

Müller ist ein Politiker ohne Poker-Face. Stimmungen spiegeln sich sofort und nachhaltig in seinem Gesicht wieder. Fühlt er sich in die Enge getrieben, kann sein Gegenüber das Misstrauen unmittelbar ablesen. Das gilt auch umgekehrt. Fühlt Müller sich sicher, genießt er Auftritte. Gerade gibt es solche Momente, wenn er fordert, dass das Land "aus dieser elenden Hartz IV-Debatte herauskommen muss", und die Leute ihm zuhören. Er sucht die Auseinandersetzung, und nimmt derzeit gelassen auch die Fragen in Kauf, was denn nun mit seiner Stadt ist, überhaupt dem BER. In diesen Tagen vermag er lächelnd zu erklären, dass das ein schlimmes Ärgernis sei, aber jetzt alle Genehmigungen da seien, es voran gehe.

Der Spott wird ihn weiter begleiten. "Herr Müller sollte sich lieber um die Verbesserung der Alltagsprobleme der Bürger in Berlin kümmern, die massiv unter der Wohnungsnot, der Bildungsmisere und dem Verkehrschaos leiden", sagt der Berliner Oppositionsführer Florian Graf von der CDU. Dort, wo Müller auf Facebook für sein Konzept wirbt, findet sich ein typischer Kommentar. Müller bekomme "schon in Berlin nix auf die Kette", er solle gefälligst seine Hausaufgaben machen.

Manche Einwände seien berechtigt, "da müssen wir besser werden", sagt Müller. Er habe ein "Jahrzehnt der Investitionen" eingeleitet. "Die Aufgabe ist also verstanden und erste Verbesserungen sind zu beobachten." Zu viel Kritik will er auch nicht hören: "Berlin ist eine attraktive europäische Metropole, in die Jahr für Jahr etwa 40 000 Menschen kommen, um hier zu leben." Das dürfe man nicht vergessen, sagt Müller. Und klingt wie früher.

© SZ vom 06.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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