Außenansicht zur Wahlbeteiligung:Mehr Leidenschaft, bitte

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Ein Mann und eine Frau wählen bei der Bundestagswahl 2013. (Foto: dpa)

Immer mehr Deutsche verzichten auf eines der wichtigsten Rechte: Sie gehen nicht zur Wahl. Da wird gern auf die Schweiz als Modell für Bürgerbeteiligung hingewiesen. Dabei ist die Wahlbeteiligung dort oft noch niedriger.

Von Michael Strebel, Wetzikon, Kanton Zürich

Die Bürgerschaftswahl in Bremen verdiente sich das Prädikat "niedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte" - wie mehrere Landtagswahlen in anderen Bundesländern zuvor. Weniger als die Hälfte der Stimmbürger nahmen an der Wahl teil. Allerdings ist der Rückgang der Wahlbeteiligung kein neues Phänomen, es lässt sich seit mehr als 20 Jahren beobachten. Immer mehr Bürger verzichten auf eines ihrer wichtigsten Rechte.

So sicher wie das Amen in der Kirche folgen im Nachgang zu den Wahlen aus allen Parteien Klagen und Unverständnis angesichts der immer weiter steigenden Zahl der Nichtwähler. Gleich anschließend werden jeweils Rezepte herumgereicht: weg mit dem Wahlsonntag, Stimmabgabe während einer ganzen Woche, und zwar möglichst überall, sagt etwa die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi.

Zur Person

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(Foto: Privat)

Michael Strebel, 37, ist Leiter der Parlamentsdienste der Stadt Wetzikon im Kanton Zürich. Außerdem hat er einen Lehrauftrag für Vergleichende Politikwissenschaft an der Fernuniversität in Hagen.

CDU und CSU schlagen vor, die Öffnungszeit der Wahllokale zu verlängern und den Auslandsdeutschen die Stimmabgabe zu erleichtern. Außerdem sollen die lokalen Medien verpflichtet werden, auf die Möglichkeit der Briefwahl hinzuweisen, um diese populärer zu machen. Als Nächstes wird dann häufig die Schweiz als ein Modellfall für die Mitwirkung der Bürger an der Politik herangezogen.

Direktdemokratische Beteiligung als Exortschlager

Neben Heidi inmitten von Schokolade und Käse wird also auch die direktdemokratische Beteiligung als Schweizer Exportschlager angepriesen und die Möglichkeit der politischen Partizipation in der Eidgenossenschaft als Heilmittel gegen die deutsche Wahlmüdigkeit empfohlen.

Ja, es stimmt schon, die Instrumente der direkten Demokratie, über die Bürger die Politik auf Bundes-, Kantons- und Kommunalebene beeinflussen können, ist in Deutschlands südlichem Nachbarland stark ausgebaut und gehört sozusagen zur Schweizer DNA.

Gegen die meisten Beschlüsse der Parlamente kann das Referendum ergriffen werden. Mittels "Initiative" (Volksbegehren) ist es möglich, ein bestimmtes Anliegen zu lancieren, das in der politischen Arena sonst gar nicht oder zu wenig Beachtung finden würde. Beide Instrumente sind in der Anwendung simpel, auch im Vergleich zu den Volksbegehren deutscher Prägung.

Die Möglichkeiten der Partizipation des Schweizer Souveräns ist in der Tat beachtlich; vieles, was in Deutschland gefordert wird, ist hier bereits Wirklichkeit: Schon vier Wochen vor einer Wahl oder Abstimmung ist die briefliche Teilnahme daran möglich, in manchen Kantonen sowie für Auslandsschweizer auch auf elektronischem Wege. Mancherorts können die Stimmzettel nicht nur am Wahlsonntag, sondern bereits am Samstag davor oder im Verlauf der vorangehenden Woche im Wahllokal abgegeben werden.

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Strafe fürs Nichtwählen

Allerdings wird die Briefwahl immer stärker bevorzugt, was dazu führt, dass die Anzahl der Wahllokale und die Öffnungszeiten kontinuierlich reduziert werden. Die Möglichkeit zur Stimmabgabe kann Deutschland tatsächlich als Vorbild dienen. Ein Kanton geht sogar noch weiter: Schaffhausen kennt die Pflicht zur Stimmabgabe. Kommt der Bürger der Aufforderung, sein Stimm- und Wahlrecht wahrzunehmen, nicht nach, wird ihm eine Strafe von sechs Franken auferlegt.

Angesichts so vieler Möglichkeiten scheint es fast unmöglich zu sein, sich nicht an einer Wahl oder Abstimmung zu beteiligen, zumal davor ein breiter Diskurs stattfindet, in dem sich neben den Behörden auch Parteien, Verbände und weitere von einer Vorlage betroffene Akteure engagieren. Ist also die Schweiz ein Paradies der demokratischen Beteiligung?

Im April dieses Jahres wählte der Kanton Zürich am selben Sonntag sowohl das Parlament als auch die siebenköpfige Regierung (in zwei unterschiedlichen Wahlen). Auch auf diese Wahl traf das Prädikat "niedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte" zu - aber in verschärfter Form: Beim Parlament lag sie bei 32 Prozent, bei der Regierung mit 31 Prozent sogar noch etwas niedriger.

Dabei handelt es sich nicht etwa um Ausreißer; in den meisten Kantonsparlamenten sieht die Beteiligung ähnlich mager aus. Eigentlich wären die Nichtwähler die größte Fraktion. Nicht viel besser ist diesbezüglich die Lage des Bundesparlaments, bei dem die Wahlbeteiligung schon seit 1979 unter 50 Prozent liegt und 1995 mit 42 Prozent einen Tiefpunkt erreichte. Sogar im Kanton Schaffhausen betrug die Beteiligung an den letzten Parlaments- und Regierungsratswahlen - mit Stimmzwang - nur gut 55 Prozent.

Einige Beobachter in der Schweiz halten solche Resultate für nicht so schlimm und weisen darauf hin, der mündige Bürger entscheide sehr wohl bewusst, ob und an welcher Wahl oder Abstimmung er teilnehmen will. Er engagiere sich eben für das, von dem er annimmt, dass es für sein Leben von Bedeutung sei.

Ein Zürcher Regierungsratskandidat wurde während des Wahlkampfs gefragt, ob denn die sich abzeichnende 30-prozentige Wahlbeteiligung für ihn ein Problem darstelle. Nein, so die Antwort, bei etwa 20 Prozent allerdings müsste man schon noch mal neu nachdenken. Von wann an eine Wahlbeteiligung als problematisch einzustufen ist, wird in Fachkreisen unterschiedlich diskutiert. Wegen der Wahlabstinenz muss ja nicht gleich Demokratie als Ganzes infrage gestellt werden.

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Nichtsdestotrotz: Parlamente und Regierungen legitimeren sich durch Wahlen. Wie steht es um diese Legitimation, wenn sich bestenfalls ein Drittel an einer Wahl beteiligt?

Die gleiche Frage stellt sich natürlich auch bei Sachfragen, zu denen die Schweizer Bürger Stellung nehmen können und sollten: Bereits seit den Fünfzigerjahren liegt die Stimmbeteiligung auf nationaler Ebene durchschnittlich unter 50 Prozent, von 1971 bis 1990 erreichte sie mäßige 40 Prozent.

Alles in allem: In der für ihr System der direkten Demokratie so sehr gelobten Schweiz ist die Wahlbeteiligung durchgehend um einiges niedriger als in Deutschland, teilweise sogar massiv. Die stark ausgebauten, direktdemokratischen Rechte und natürlich auch die Möglichkeiten zur Stimm- und Wahlabgabe schweizerischer Prägung dürfen aber gewiss als Inspiration dienen.

Mehr und mehr für politische Inhalte werben

Dieser Artikel ist denn auch weder als Votum gegen die Weiterentwicklung der Instrumente direkter Demokratie noch gegen bessere, einfachere Möglichkeiten zu verstehen, den Bürgern die Wahrnehmung ihres Wahlrechts zu erleichtern. Die Wahlbeteiligung mag durch Letzteres kurzfristig gesteigert werden. Das Kernproblem ist jedoch damit nicht gelöst.

Politiker und Medien müssen mehr und mehr für politische Inhalte werben, für Überzeugungen einstehen und Alternativen entwickeln, um das Interesse der abstinenten Stimmbürger zu wecken. Geschieht dies mit Leidenschaft und aufrichtig, umso besser.

© SZ vom 15.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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