Ausbruch des Ersten Weltkriegs:Abgründe von Euphorie

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Fröhlich ins Gefecht? Viele Intellektuelle, aber auch Soldaten zeigten sich im August 1914 begeistert vom Krieg. (Foto: picture-alliance/dpa)

"Alles Hohle und Leere, was vorher über der Welt lag, verschwindet": Schriftsteller aus ganz Europa haben Presseberichte vom August 1914 aus ihren Heimatstädten gesichtet und bewertet. Sie zeigen, wie der Krieg in das Leben der Menschen einbrach - schnell in den Städten, dosiert oft in der Provinz.

Von Gustav Seibt

Wann ist München eigentlich zur "Hauptstadt der Bewegung" geworden? Die Frage ist alles andere als trivial, denn der Weg von der lässigen Kunstmetropole der Prinzregentenzeit zum völkischen Bierkellersumpf von 1923 wirkt schon deshalb nicht geradlinig, weil dazwischen im Jahr 1918 das Experiment von Kurt Eisners Münchner Revolution lag, die ebenso viel Zulauf hatte, wie es die Revolutionen in Berlin und Hamburg hatten.

Und doch muss das nationalistische Potenzial auch in der bayerischen Residenz längst beträchtlich gewesen sein, jedenfalls wenn man der örtlichen Presse vom August 1914 glaubt.

Hier ist kein bayerisch-skeptischer Sonderweg zu bemerken, und der Lübecker Zugereiste Thomas Mann konnte am "Augusterlebnis" ebenso direkt teilhaben wie der aus Berlin stammende Tagebuchschreiber Erich Mühsam, der eigentlich Pazifist war. Selbst er fand damals "die Einmütigkeit des Gefühls, eine gerechte Sache zu führen, bei aller Verblendung ergreifend. Man ist sehr ernst, doch sichtlich gehoben".

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Am 11. August 1914 notierte Mühsam in München: "Die Zuversicht der Deutschen, ihre gläubige starke Anteilnahme ist erschütternd, aber großartig. Es ist jetzt eine seelische Einheit vorhanden, die ich einmal für große Kulturdinge erhoffe." In denselben Tagen berichteten Münchner Blätter von dem demolierten Lokal Fahrig am Karlstor, weil der Wirt nicht sofort dem Wunsch nachgegeben hatte, von der Kapelle patriotische Lieder spielen zu lassen.

Im Zustand der Raserei

Es war Raserei, Wahn, aber die Gefühle waren zweifellos echt. Sie liegen in Hunderten Zeitungsberichten, Zeitschriftenessays, in Tausenden Gedichten, in Briefen und Tagebüchern vor. Dass keineswegs alle sie teilten, dass, wie die Geschichtswissenschaft längst herausgefunden hat, die ländlichen Massen ängstlich und misstrauisch gegen die Mobilisierung in der besten Erntezeit blieben, ändert nichts an dem städtisch-publizistischen Kern nationalistischer Begeisterung.

Seit der Französischen Revolution waren alle großen Kriege Medienereignisse, aber nie war der Einklang der Intellektuellen mit dem "Volk" so ersehnt und so emphatisch beschworen wie in den ersten Augustwochen 1914. Man kann sie als die welthistorische Spitze des modernen Gefühlskomplexes Nationalismus verstehen; in keinem anderen Moment lässt er sich so aufschlussreich studieren wie hier.

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Wer das dritte und vierte Quartalsheft 1914 der Neuen Rundschau - der Zeitschrift Merkur des Kaiserreichs - studiert (am besten in den wunderbar zu durchblätternden Faksimiles auf www.archive.org), der findet die größten Namen, Thomas Mann, Alfred Döblin, Friedrich Meinecke, Max Scheler mit Texten im Zustand der Raserei.

Noch immer kommt neues Briefmaterial ans Licht, beispielsweise soeben im "Hofmannsthal-Jahrbuch" 21 (Rombach Verlag Freiburg) der Briefwechsel zwischen Rudolf Alexander Schröder und Eberhard von Bodenhausen, der das Kriegsbeginnerlebnis im Austausch zwischen einem jungen Dichter und einem modernen Unternehmer von Tag zu Tag nachvollziehbar macht.

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Es war angesichts dieser intellektuellen Begleitmusik zum Völkerschlachten eine blendende Idee des "Netzwerks der Literaturhäuser", heutige Schriftsteller zu bitten, sich zu ihr zu verhalten. Man fragte Autoren aus ganz Europa an, in die Pressearchive ihrer Heimatstädte zu steigen, um daraus zu zitieren, Erzählungen und Kommentare zu den Meldungen, Gefühlen und Kommentaren vor hundert Jahren zu machen - ein europäischer Einfall, der den Leser über zwei Zeiten belehrt, das Jahr 1914 und das Jahr 2014.

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Der Fokus auf einen Ort, die Heimat (um das vornationale Wort zu nehmen), schlägt eine Brücke, die allzu leichtes Besserwissen erschwert. Und so kann der Münchner Leser in Lucas Hammersteins Beitrag nicht nur Erich Mühsam zuhören, sondern auch den Vorläufern der SZ. Und er lernt: nichts von Streiflicht-Ironie, sondern allenthalben vaterländische Wortblasmusik um den Marienplatz.

Die Autoren aus den Jahrgängen zwischen 1950 und 1970 haben ihre Sache gut gemacht. Der als dickes Heft der Horen erschienene Band gehört zum Erhellendsten und Unterhaltsamsten des Gedenkjahres. Denn es ist auch für uns wichtig zu erfahren, wie etwa die kleinstädtische Gesellschaft in Dijon auf den Krieg reagierte; Éric Chevillard zeichnet ein schönes Bild von französischer Provinzbehaglichkeit, in die der Krieg viel dosierter einbricht als im moderneren München.

Auch in Belgien, dem ersten Opfer des Krieges, dessen Niedertrampeln durch die Deutschen ihre Niederlage an der Propagandafront ein für alle Mal feststellte, herrscht noch Ostende-Sommerferienluft und royaler Neutralitätsstolz (Erwin Mortier) - daneben darf man gern Thomas Manns rasenden Belgien-Hass in "Friedrich und die Große Koalition" legen.

Leipzig hatte, anders als München, eine starke Arbeiterpresse, die Angela Krauß auswertet - der Krieg wird hier viel skeptischer gesehen als in München. Und trotzdem heißt es am 7. August: "Eitelkeit und Hässlichkeit, alles Hohle und Leere, was vorher über der Welt lag, verschwindet." Hohl klingt das für uns - große Geister wie Meinecke haben bis ans Ende ihrer Tage bezeugt, sie hätten die Aufhebung der Hohlheit in diesen Tagen erlebt.

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Ein serbischer Attentäter hat den Krieg ausgelöst, doch literarisch hat Österreich gesiegt - nicht nur durch Karl Kraus und Musil, sondern noch heute bei dem serbischen Schriftsteller Sreten, der mit kakanischen Erwägungen zur Legitimität des Tyrannenmords das Attentat von Sarajewo umkreist, die Amselfeld-Mythologie zwischen 1389 und 1989 im Rücken. Ein europäisches Lesebuch wird daraus, zu dem A.L. Kennedy, Karl-Markus Gauß, Dževad Karahasan wie selbstverständlich Beiträge leisten, über alle hoffentlich verschütteten, aber hier wieder erkennbare Leidenschaftsgräben hinweg.

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Von Hubert Wetzel

Das gewichtigste, schlechthin meisterhafte Stück hat Marcel Beyer, der diesjährige Kleist-Preisträger, beigesteuert. Wie Beyer die literarischen Mittel des einstigen Erbfeinds, den Humor Prousts und die Melancholie Claude Simons, auf die nicht nur deutschen Zeugnisse kollektiven Irrsinns anwendet, ist von so abgründiger Komik, dass man seinem schön langen Text eine Separatausgabe wünscht, und zwar als Insel-Buch, in dem Format also, das damals in unzähligen Soldaten-Tornistern mit meist viel schlechteren Texten (etwa Rilkes "Cornet") Platz fand.

Beyers Essay hat die Qualität der ganz großen Literatur, nämlich Unreferierbarkeit. Ein Zitat muss genügen: Über die mit einem Totenkopf besetzte Bärenfellmütze, die ein Welfenprinz damals ausgerechnet zur Taufe eines seiner Kinder trug, bemerkt Beyer, an sie hefte sich "die verwirrende Phantasie, Kaiserin Sisi persönlich habe aus einer Nachmittagslaune heraus die Waffen-SS gegründet und gerade noch rechtzeitig vor ihrem letzten Spaziergang am Genfer See ihren lieben Freund Harald Glööckler mit dem Entwurf der Uniformen betraut".

© SZ vom 02.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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