Atommüll:"Was gibt es für Störfallszenarien und wie ist man darauf vorbereitet?"

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Ein Ortschaftstafel von Hohentengen am Hochrhein (Archivbild) (Foto: Walter Bieri/dpa)

Die Schweizer Atommüll-Behörde Nagra will ein Endlager an der deutschen Grenze bauen - wenige Kilometer südlich der Gemeinde Hohentengen. Deren Bürgermeister fordert mehr Informationen.

Die Entscheidung der Schweiz für den Standort ihres Atommüll-Endlagers nahe der baden-württembergischen Ortschaft Hohentengen ist auf beiden Seiten der Grenze skeptisch aufgenommen worden. Das Gebiet Nördlich Lägern war vor einigen Jahren als eher nicht geeignet eingestuft worden, wurde nun aber doch unter den drei verbliebenen Standorten ausgewählt, wie die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) am Samstagabend mitteilte. Genauer erläutern will die Nagra dies am Montag.

Der Bürgermeister von Hohentengen, Martin Benz, will den Entscheidungsträgern sehr genau "auf den Zahn fühlen", sagt er der Deutschen Presse-Agentur. "Sie müssen sehr gut begründen, warum ein zurückgestellter Standort plötzlich zum präferierten Standort wird." Die Grenze ist dort teilweise nur wenige hundert Meter entfernt. Den Bewohnern sei klar, dass der radioaktive Müll vorhanden ist und entsorgt werden muss, sagte Benz. Auch sie seien für die Lagerung am sichersten Ort. "Aber diese Fragen müssen beantwortet werden: Was gibt es für Störfallszenarien und wie ist man darauf vorbereitet?"

Die sozialdemokratische Schweizer Politikerin Astrid Andermatt sprach von einer schockierenden Vorstellung. Sie engagierte sich jahrelang in dem Verein "Nördlich Lägern ohne Tiefenlager". "Die Nagra hat offenbar mitten im Verfahren die Kriterien anders gewertet", sagte Andermatt der Zeitung Der Landbote. "Das wirkt unseriös."

"Eine große Belastung für umliegende Gemeinden"

Das Bundesumweltministerium bezeichnete die Entscheidung als Belastung für die betroffenen Gemeinden. Die grenznahe Lage des geplanten Standorts beim baden-württembergischen Ort Hohentengen am Hochrhein "stellt sowohl in der Errichtungsphase als auch beim Betrieb des Endlagers für diese und umliegende Gemeinden eine große Belastung dar", sagte Christian Kühn, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesumweltministerium und Bundestagsabgeordneter aus Baden-Württemberg, am Samstagabend in Berlin auf Anfrage. "Ich setze mich bei der Schweiz dafür ein, dass die bisherige gute Einbindung der deutschen Nachbarn fortgesetzt wird."

Gleichzeitig betonte Kühn, dass es "richtig und wichtig" sei, dass die Geologie das entscheidende Kriterium für die Standortwahl eines Endlagers ist. Zum einen muss die Erdbebenwahrscheinlichkeit so gering wie möglich sein, zum anderen muss der Stein im Untergrund bestimmte Eigenschaften haben. In der Schweiz eignet sich nur der Opalinuston zur Einlagerung. Diese Voraussetzungen gibt es nur im Grenzgebiet.

"Es ist auch in unserem Interesse, dass die Schweizer Abfälle sicher gelagert werden", sagt Martin Steinebrunner von der Deutschen Koordinationsstelle Schweizer Tiefenlager (DKST) beim Regionalverband Hochrhein-Bodensee. "Wenn der sicherste Ort ein paar Kilometer weg von der Grenze ist, nehmen wir das hin. Wir haben auch die Schweizer Kernkraftwerke in Grenznähe. Es ist ein Zugewinn an Sicherheit, wenn alles eingelagert ist."

Die radioaktiven Abfälle aus den seit 1969 betriebenen Atomkraftwerken sowie aus Bereichen wie Medizin, Industrie und Forschung umfassen 9 300 Kubikmeter. Dazu kommen etwa 72 000 Kubikmeter schwach-​ und mittelradioaktive Abfälle. Die vier noch laufenden Atomkraftwerken dürfen betrieben werden, so lange ihre Sicherheit gewährleistet ist. Das kann bis in die 2040er Jahre gehen. Das Material wird in Uranoxid oder Glas eingebettet sowie in dickwandige Behälter aus Stahl oder in Zement verfestigt in Fässer gepackt. Die Lagerstollen werden mit Bentonit oder Zementmörtel aufgefüllt. Die Stollen liegen hunderte Meter tief. "Die benötigte Einschlusszeit beträgt bei hochaktiven Abfällen etwa 200 000 Jahre und bei schwach-​ und mittelaktiven Abfällen rund 30 000 Jahre", so die Nagra.

Finnland beginnt bald mit der Endlagerung, Deutschland sucht noch einen Standort

Die Nagra will bis 2024 ein Baugesuch einreichen. Danach entscheidet die Regierung über die Bewilligung, das Parlament muss den Beschluss genehmigen. Darüber kann in der Schweiz aber eine Volksabstimmung durchgesetzt werden. Die würde voraussichtlich nicht vor 2031 stattfinden. Wird der Beschluss nicht abgelehnt, beginnt dann der Bau. Die mehrjährige Einlagerung begänne etwa 2050. Das Lager würde dann über einige Jahrzehnte beobachtet. Etwa 2125 soll es endgültig versiegelt und die Bauten an der Oberfläche abgebaut werden.

In Deutschland ist die Endlagersuche noch nicht abgeschlossen, noch sind 54 Prozent der Fläche als mögliche Standorte ausgewiesen, betroffen fast alle Bundesländer. Die Entscheidung soll 2031 fallen, und das Lager soll auch etwa 2050 den Betrieb aufnehmen.

Am weitesten in Europa ist Finnland, wo schon Mitte der 2020er Jahre mit der Einlagerung in einem Endlager für Atommüll unter der Insel Olkiluoto im Südwesten Finnlands begonnen werden soll.

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