Asylpolitik:Und still ruht der Brenner

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Auf der Brenner-Bundesstraße steht bereits eine neu errichtete Kontrollstelle (Foto: imago/Eibner Europa)
  • In Österreich wird darüber diskutiert, die Grenze am Brenner durch Soldaten und Panzer gegen einen neuen Flüchtlingsstrom zu schützen.
  • Dabei ist die Lage dort gerade eher ruhig.
  • Doch Probleme bei der Integration der bisher in Österreich gebliebenen Flüchtlinge sind eine Steilvorlage für Populisten.

Von Andrea Bachstein, Thomas Kirchner und Matthias Köpf

Den Schlagbaum auf der Brennerstraße herunterlassen, Personen auf der Autobahn kontrollieren, Panzer auf die Passhöhe schicken, und alles, um Flüchtlinge abzuwehren, die gar nicht da sind: Arno Kompatscher kann über die Ankündigungen - oder sind es Drohungen? - aus Wien nur den Kopf schütteln. "Überzogen" nennt er sie; mit der gegenwärtigen Situation am Brenner hätten sie rein gar nichts zu tun. Denn die sei "ruhig", versichert der Landeshauptmann von Südtirol, Italiens Grenzprovinz. Es gebe kaum illegale Grenzübertritte von Italien nach Österreich, sagte er im Bayerischen Rundfunk. Die Alarmrufe aus Wien seien mehr dem Wahlkampf dort geschuldet als der Wirklichkeit in Italien.

Doch begonnen hat das, was sich möglicherweise zu einer neuen Flüchtlingskrise oder zumindest zu einem neuen Streit über die Flüchtlinge in der EU auswachsen könnte, nicht mit den Warnungen aus Wien. Die ersten Alarmrufe waren vergangene Woche aus Rom gekommen, als Italiens Regierung damit drohte, Schiffen von Hilfsorganisationen mit Flüchtlingen an Bord die Einfahrt in Häfen zu verweigern. Tatsächlich ist Italien das einzige EU-Land, in dem die Flüchtlingszahlen steigen. Laut Innenministerium in Rom sind in diesem Jahr 85 170 Menschen (Stand 4. Juli) in Italien eingetroffen, fast 15 000 mehr als im gleichen Zeitraum 2016. Am Ende summierte sich 2016 ihre Zahl auf 181 000. Niemand kann sagen, wie viele es am Ende dieses Jahres sein werden. Und das beunruhigt offenbar die Regierung in Rom - und die in Wien.

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Wer ankommt in Italien, wird zunächst in einem der Hotspots in Sizilien oder dem Süden des Festlands registriert, wo die Flüchtlinge einen Asylantrag stellen können. Dann werden sie im Land verteilt, es gibt 14 Zentren von Nord bis Süd. Dort gibt es aber nur rund 27 000 reguläre Plätze. Die übrigen Menschen müssen die Kommunen aufnehmen. Die Regierung in Rom bemüht sich, die Flüchtlinge gerecht in den 20 Regionen des Landes zu verteilen, aber kann Gemeinden nicht zwingen, sie aufzunehmen. Mehr als tausend Gemeinden tun dies freiwillig. Insgesamt dürfte Italiens Flüchtlingssystem mit außerordentlichen Notkapazitäten etwa 140 000 Aufnahmeplätze haben. Aber die sind längst übervoll. Teilweise werden Hotels für Flüchtlinge gemietet, alte Kasernen wurden hergerichtet und andere Gebäude, die nicht wirklich geeignet sind als Unterbringung. Wie viele Flüchtlinge sich in Italien und wo genau aufhalten, vermag aber wohl selbst das Innenministerium in Rom nicht ganz genau zu sagen. Offizielle Zahlen gibt es nicht, eine Anfrage blieb ohne Antwort. Doch hat die Regierung offenbar die Befürchtung, dass das System nun an seine Grenzen stoßen könnte.

Es ist nicht so, dass die EU Italien mit den Flüchtlingen völlig allein gelassen hätte

Dabei sind die Neuankömmlinge nur ein Teil des Problems. Keiner weiß so recht, was mit den Menschen geschehen soll, die früher gekommen sind - 2015, im Jahr der großen Krise, waren es 153 842. Viele sind weitergezogen, vor allem die Syrer. Wie viele geblieben sind? Ein Rätsel. Die größten Gruppen sind mittlerweile Nigerianer und Bangladescher. Sie haben kaum Aussichten auf Anerkennung. So erhielten 2016 drei Prozent der Nigerianer den Flüchtlingsstatus mit allen Rechten, fünf Prozent wurden subsidiärer Schutz, 17 Prozent ein humanitärer Schutzstatus gewährt. 57 Prozent aller Asylanträge aber wurden abgelehnt. Abgeschoben wird indes kaum jemand.

Und für diejenigen, die als Flüchtlinge anerkannt oder geduldet werden, reichen die Integrationsmaßnahmen bei Weitem nicht aus. Arbeitsplätze gibt es ohnehin nicht genug. Das schürt auch in Italien die Furcht vor einem Heer von Menschen, das sich illegal verdingt, denn von den Sozialleistungen des Staats lässt sich in Italien nur schwer überleben. Darin liegt mächtiger innenpolitischer Sprengstoff, spätestens im Februar oder März wird gewählt, und Populisten wie die der Lega Nord wissen das Thema für sich zu nutzen.

Es ist indes nicht so, dass Italien vollkommen alleingelassen wurde in der Flüchtlingskrise. Seit 2015 hat das Land von der EU immerhin 655 Millionen Euro erhalten, Aufnahmezentren wurden eingerichtet, Experten geschickt. Man beschloss die Umverteilung. Die läuft aber eher schleppend. Deshalb werden in Brüssel drei mögliche Lösungen diskutiert.

Über Österreich kommen durchschnittlich 1600 Migranten pro Monat nach Bayern

Zum einen könnte Italien mit europäischer Hilfe zu einem sogenannten EU-Flüchtlingshub ausgebaut werden. Aufnahme, Bearbeitung der Asylanträge, Verteilung von Asylberechtigten auf andere EU-Staaten, gegebenenfalls Rückführung in Herkunfts- oder Transitstaaten - all dies müsste reibungsloser funktionieren. Nötig wäre dafür wohl aber, dass die EU eine eigene Zuständigkeit für die Asylverfahren erhält, inklusive EU-Rechtsweg.

Zum anderen könnte man versuchen, die Migranten gar nicht erst nach Europa gelangen zu lassen: Sie müssten auf dem Weg nach Libyen oder spätestens in libyschen Küstengewässern abgefangen und zurückgeschickt werden. Genau dies versucht die EU bereits, indem sie die libysche Grenz- und Küstenwache aufrüstet. Option drei - sichere und legale Zugangswege zu schaffen - ist aus Sicht der Hilfsorganisationen die einzig sinnvolle. Doch die spielt in den politischen Überlegungen in Brüssel nur eine kleine Rolle.

Ohnehin sind das alles nur Langzeitoptionen. Gegenwärtig werden sie wenig an der Situation ändern, von der keiner so recht weiß, wie sie sich entwickelt. Zur Zeit jedenfalls gibt es an den Grenzen keinerlei Anzeichen für dramatische Verschiebungen. In Bayern kamen nach Angaben der Bundespolizei seit Jahresbeginn pro Monat durchschnittlich 1600 Flüchtlinge an, die meisten davon über Österreich.

Und auch dort, wo Österreichs Verteidigungs- und Außenminister die größte Gefahr sehen, am Brenner, hat sich in jüngster Zeit nichts verändert. Die Überlegungen in Wien seien aus seiner Sicht "aufgrund der Entwicklung auf der Brenner-Route in keiner Weise nachvollziehbar", sagte der Tiroler Landespolizeidirektor Helmut Tomac der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Seine Beamten würden gegenwärtig zwischen 15 und 25 illegale Migranten am Tag aufgreifen. In der vorletzten Juni-Woche seien 86 Menschen aufgegriffen worden, in derselben Woche im vergangenen Jahr seien es 168 gewesen: "Derzeit gibt es auf der Brenner-Route keine Auffälligkeiten."

© SZ vom 06.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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