Asylpolitik:Quote der einsamen Kinder

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Nasri Sugal Jaamac, 16, floh aus Somalia und kam, weil er noch nicht volljährig ist, in ein Wohnheim des Jugendschutzes in Stuttgart. (Foto: Marijan Murat/dpa)
  • Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gehören zu den verletzlichsten Menschen, die in Deutschland ankommen.
  • Die Bundesregierung plant nun, sie bundesweit zu verteilen - bisher wollte man ihnen diese Belastung ersparen.
  • Durch das neue Gesetz sollen Kommunen entlastet werden, die Opposition kritisierte die Quote als bürokratisch.

Von Constanze von Bullion, Berlin

Sie gehören zu den besonders verletzlichen Flüchtlingen, und ihre Zahl wächst immer schneller. 600 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreute die deutsche Jugendhilfe 2006, also Kinder und Jugendliche, die auf der Flucht die Familie verloren haben oder von den Eltern allein nach Deutschland geschickt wurden. Inzwischen haben etwa 22 000 alleinreisende minderjährige Flüchtlinge bei deutschen Behörden Zuflucht gefunden. Die meisten landen in Großstädten oder in süddeutschen Grenzregionen. Dort warten sie oft Monate auf Schulplätze, einen Vormund oder medizinische Betreuung. "Die Versorgung und Unterbringung haben sich dramatisch zugespitzt", sagte Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) am Mittwoch. Nun sollen die jungen Flüchtlinge bundesweit verteilt werden.

Das Kabinett hat am Mittwoch einen Gesetzentwurf gebilligt, wonach unbegleitete jugendliche Flüchtlinge nicht mehr an dem Ort bleiben müssen, an dem sie als Erstes landen in Deutschland. Bisher war es verboten, solche Asylbewerber in andere Bundesländer weiterzuschicken, da man ihnen zusätzliche Belastung ersparen wollte. "Diese Idee ist im Prinzip gut, aber sie funktioniert nicht mehr", sagte Familienministerin Schwesig am Mittwoch in Berlin. In Hamburg lebten 20 unbegleitete junge Leute in einer Turnhalle. In anderen Großstädten stauten sich Anträge über Monate oder es fehlten Sozialarbeiter. Für Jugendliche, die dramatische Fluchten und Gewalt hinter sich hätten, seien solche Zustände nicht akzeptabel und eine angemessene Betreuung nicht mehr möglich.

Das Gesetz zur verbesserten Unterbringung und Betreuung unbegleiteter Flüchtlinge sieht nun vor, dass jedes Bundesland solche Jugendlichen aufnehmen muss. Bis zum 1. Januar gilt eine freiwillige Übergangsfrist. Dann orientiert sich die Verteilung am Königsteiner Schlüssel, also an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft des Bundeslandes. Dies sei aber nicht der einzige Maßstab, so Schwesig. Welche Jugendämter welche Flüchtlinge betreuen, entscheiden die Länder, je nach Einzelfall.

Die Mehrzahl sind Jungs, zwischen 16 und 18 Jahren alt

Zu den Standards, die Kommunen künftig sicherstellen müssen, gehören Sprachförderung, die Bereitstellung von Dolmetschern, Kita- und Schulplätzen. Auch um psychologische Betreuung und Familienzusammenführung müssen sie sich kümmern. Die Jugendämter "sind vorbereitet", versicherte Schwesig. Zusätzliche Geldmittel stelle der Bund allerdings nicht zur Verfügung. Die Kommunen werden generell durch das mit zwölf Millionen Euro ausgestattete Bundesprogramm "Willkommen bei Freunden" unterstützt. Eine genaue Aufteilung der Mittel steht noch aus.

Wie schwierig die Situation in Großstädten geworden ist, schilderte in Berlin Andreas Dexheimer von der Diakonie München. Dort wurden vor zwei Jahren 550 unbegleitete Minderjährige betreut. Für dieses Jahr rechnen die Behörden mit bis zu 10 000. Es fehle an Immobilien, Pädagogen, Psychologen, Schulplätzen, sagte Dexheimer. "Wir haben trotz aller Integrationsbemühungen keine Chance, die Ankommenden ins Regel- und Schulsystem einzugliedern." Auch würden die Flüchtlinge immer jünger, kürzlich sei ein Achtjähriger aus Eritrea allein in München angekommen. Betreuer hörten zunehmend von Schleppern, die Familien absichtlich trennten und Jugendliche - meistens sind es Jungs - allein nach Europa schleusten, "um weiter Druck auf die Eltern auszuüben". Auch das erkläre die stark wachsende Zahl unbegleiteter Minderjähriger.

Sie warten oft Monate auf Schulplätze oder medizinische Hilfe

Dass Städte wie München und Passau nun entlastet werden, erntete Lob in Bayern. "Damit entspannt sich die Situation ganz außerordentlich", sagte Bayerns Staatskanzleichef Marcel Huber (CSU). Die Unterbringung und Betreuung eines unbegleitenden Jugendlichen kosteten pro Jahr etwa 50 000 Euro. Positiv äußerte sich auch Caritas-Präsident Peter Neher. Die Verteilung minderjähriger Flüchtlinge sei unumgänglich, weil einige Kommunen "an ihre Grenzen kommen", sagte er.

Von der Opposition im Bundestag kam Kritik. Eine Verteilung "nach bürokratischen Quoten anstelle einer strikt am Kindeswohl orientierten Unterbringung" lehne sie ab, sagte die Linken-Abgeordnete Ulla Jelpke. Die Grünen erklärten: "Familienministerin Schwesig missachtet das Kindeswohl." Ähnlich sehen das Flüchtlingsorganisationen. Es sei zwar erfreulich, dass die Flüchtlinge künftig mit 18 Jahren als volljährig gelten statt wie bisher mit 16, also länger auf staatlichen Schutz zählen könnten, sagte der stellvertretende Geschäftsführer von Pro Asyl, Bernd Mesović. Die Umverteilung aber sei problematisch. "Viele jugendliche Flüchtlinge haben ganz schreckliche Erfahrungen gemacht und brauchen intensive psychologische Betreuung."

Selbst in Regionen wie Frankfurt am Main, die lange Erfahrung mit Flüchtlingen gesammelt hätten, habe es Jahrzehnte gedauert, effektive Strukturen aufzubauen. Auch dort bleibe die Betreuung schwierig. "Man kann nicht erwarten, dass Jugendämter in Ländern, die noch keinerlei Strukturen aufgebaut haben, so etwas können." Statt nun "Notmaßnahmen" einzuleiten und Jugendliche in abgelegene Regionen zu bringen, müsse der Staat sich stärker am Kindeswohl orientieren. Aus Mecklenburg-Vorpommern kamen prompt Widerworte. "Wir sehen das als Chance", sagte Dirk Scheer, Referent des Landkreises Vorpommern-Greifswald. Gerade für Regionen, die von Auswanderung betroffen seien und Arbeitskräfte bräuchten, seien junge Flüchtlinge ein Gewinn.

© SZ vom 16.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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