Anschlag in Tunis:Die Gewalt trifft Tunesien mit Vorwarnung

Protesters gesture as they shout 'Allahu Akbar' (God is Greatest) during a demonstration, in Tunis

Konservative Islamisten bei einer Demonstration in Tunis im Jahre 2012. Ein vermummter junger Mann reckt den Zeigefinger, eine Geste, die auch die Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) verwenden.

(Foto: REUTERS)
  • Als einziges arabisches Land hat sich Tunesien nach Beginn des Arabischen Frühlings Ende 2010 demokratisch entwickelt.
  • Gleichzeitig schließen sich, gemessen an der Einwohnerzahl, aus keinem anderen Land mehr Kämpfer der Terrormiliz "Islamischer Staat" an als aus Tunesien.
  • Die Bekämpfung des Terrorismus sieht die neue Regierung in Tunis als ihre Hauptaufgabe an. Insbesondere der Schutz der Grenzen ist aus Angst vor IS-Rückkehrern in den vergangenen Monaten verstärkt worden.

Von Paul Munzinger

Ausgangspunkt für den Arabischen Frühling

Vor genau einem Monat, am 18. Februar, wurden bei einem Anschlag im Westen Tunesiens vier Polizisten getötet. Im Westen blieb der Angriff in der bergigen Region an der Grenze zu Algerien weitgehend unbeachtet.

Dabei hatte er schon vor vier Wochen daran erinnert, was jetzt, nach dem Anschlag mit 19 Toten in der Hauptstadt Tunis, vor aller Augen steht: wie zerrissen das kleine Tunesien seit dem Arabischen Frühling zwischen Demokratisierung und Fortschritt auf der einen und Islamismus und Terrorismus auf der anderen Seite ist.

In Tunesien brach im Dezember 2010 die Protestwelle los, die innerhalb weniger Wochen die ganze arabische Welt erfasste. Tunesien war das einzige Land, in dem der Arabische Frühling nicht früh verblühte oder gar in einen blutigen Bürgerkrieg endete wie zum Beispiel in Syrien.

Freie Medien, freie Wahlen, die Demokratie entwickelt sich

Nach dem Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali im Januar 2011 stabilisierte sich die demokratische Entwicklung. Das Land gab sich eine neue Verfassung und bestimmte zum ersten Mal in freier und geheimer Wahl einen Präsidenten.

Nach vier Jahren Übergangsregierung fand im Januar die erste demokratische Machtübergabe statt. Premierminister Habib Essid führt seit Anfang Februar eine große Koalition aus Säkularen und gemäßigten Islamisten. Die Medien sind frei, die bürgerliche Mitte ist für arabische Verhältnisse stark und etabliert.

Das ist die eine Seite Tunesiens. Die andere: Gemessen an der Bevölkerungszahl hat der "Islamische Staat" (IS) aus keinem Land mehr Zulauf als aus Tunesien. Nach Schätzungen des Innenministeriums sollen 3000 Kämpfer - daunter auch junge Frauen - aus dem Elf-Millionen-Staat nach Syrien und in den Irak gezogen sein, um das Terror-Kalifat zu unterstützen.

Radikalisierung trotz stabiler Perspektive

Besonders ernüchternd: Auffallend viele tunesische IS-Kämpfer sollen aus der Mittelschicht stammen - Studenten und Angestellte aus guten Familien, mit soliden Gehältern und stabiler Perspektive. Auch eine relative wirtschaftliche Stabilität scheint keine Gewähr gegen das Abdriften in die Radikalität zu bieten.

Die neue Regierung sieht die Terrorismus-Bekämpfung als ihre Hauptaufgabe an. Ihre große Angst ist die massenhafte Rückkehr fanatisierter und militärisch geschulter Islamisten. An den Grenzen wurden die Sicherheitsvorkehrungen zuletzt massiv verschärft, dennoch sollen bereits 300 IS-Kämpfer zurück in Tunesien sein.

Erst Anfang Februar hat die Regierung nach eigenen Angaben eine Terrorwelle vereitelt. 32 Extremisten sollen festgenommen worden sein, darunter auch Syrien-Rückkehrer. Sie hätten Anschläge im ganzen Land geplant, auch in der Hauptstadt Tunis.

Dieses Mal ist die Gewalt den Behörden zuvorgekommen. Doch auch wenn viele Spekulationen sich um Terrorismus drehen: Noch hat sich niemand zu dem Anschlag im Herzen der Kapitale bekannt.

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