Ihre Schritte wirken schwerer als sonst, als Angela Merkel am Samstagnachmittag im Foyer des Kanzleramts vor die blaue Wand mit dem Bundesadler tritt. Wieder muss sie einen Anschlag erklären, muss den Hinterbliebenen Trost spenden. Gestern erst hatte sie ihren Urlaub angetreten, aber was macht das schon in so einer Lage?
"Wir alle trauern mit schweren Herzen um die, die nie mehr zu ihren Familien zurückkehren werden", sagt die Kanzlerin. An die Hinterbliebenen gerichtet sagte sie: "Wir teilen Ihren Schmerz. Wir denken an Sie. Wir leiden mit Ihnen."
So ein Abend und so eine Nacht seien schwer zu ertragen - zumal nach den Ereignissen der vergangenen Wochen. Merkel erwähnte Nizza und den Axt-Attentäter von Würzburg. "Die genauen Hintergründe und Motive werden weiter intensiv aufgeklärt", verspricht sie. "Immer sind es Orte, an denen jeder von uns hätte sein können."
Genau darum geht es: Jeden kann es treffen. Diese Gewissheit beginnt sich gerade zu etablieren, und zwar hier, in Mitteleuropa. Jeden kann es treffen, genau diese Botschaft wollen die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats mit ihren Mordtaten und denen ihrer frei agierenden Anhänger verbreiten. Und sie haben diese Botschaft bereits so erfolgreich auch in den Köpfen der Regierenden platziert, dass die meisten von ihnen mit dem gleichen Gedanken zur Krisensitzung nach Berlin geeilt sein dürften: Jetzt ist es auch hier passiert, kurz nach Würzburg.
Kein Wort zu Gesetzesänderungen - zumindest heute
Islamisten, die sich durch eine Innenstadt schießen. Das Frankreich-Szenario, unter diesen Vorzeichen wird für Samstagmittag die Sitzung des Sicherheits-Kabinetts angesetzt. Doch dann ist alles doch ganz anders. Womit die Sache für die Bundesregierung nicht einfacher wird. Sondern eher problematischer. Denn zur Bedrohung durch religiöse Extremisten kommt noch etwas hinzu.
Das wird klar, als kurz nach Merkel ihr CDU-Parteifreund und Innenminister Thomas de Maizière vor die Presse tritt. Während die Kanzlerin sich auf eine allgemeine Stellungnahme beschränkt hat, geht der Minister in die Details, wenn auch nicht allzu tief. Man erfährt, dass die Polizei im Zimmer des getöteten Mordschützen Hinweise auf einen Amoklauf gefunden hat. Dass es Hinweise auf Mobbing gegen ihn an seiner Schule gebe. Dass er sich womöglich abgelehnt gefühlt habe. Und de Maizière sagt, das "gigantische Ausmaß an gewaltverherrlichenden Spielen" sei äußerst problematisch.
Es sind jene Dinge, über die immer wieder diskutiert wird, wenn ein Mensch die Kontrolle über sich und sein Leben verloren und andere Menschen getötet hat. De Maizière sagt, von ihm werde man an diesem Tag kein Wort etwa zu Gesetzesänderungen hören. Doch natürlich wird diese Debatte wieder kommen.
Warum die Politik Nachahmungstäter fürchtet
Ganz kalt, ganz zynisch betrachtet, ist ein Amoklauf für Merkel keine politische Hypothek. Hätte es sich um einen islamistisch motivierten Täter, gar einen Flüchtling gehandelt, hätte das anders ausgesehen - dann wären sofort die Fragen hochgekommen, ob ihre Flüchtlingspolitik gescheitert sei oder derartigen Taten womöglich erst den Boden bereitet habe. Ob berechtigt oder nicht, Merkel hätte sich noch stärker der Frage nach ihrer Verantwortung stellen müssen. Dazu kommt es nun vorerst nicht.
Dennoch kann von Erleichterung in der Bundesregierung keine Rede sein - und das liegt nicht nur daran, dass sich ein solches Wort angesichts von neun Opfern in München schlicht verbietet. Stattdessen fürchtet man in Regierungskreisen, dass sich zwei für sich bereits schlimme Phänomene gegenseitig noch verstärken könnten.
Amoktäter gab es schon, bevor die Bedrohung durch islamistisch motivierte Attentäter akut wurde. Nun aber fürchtet man in Regierungskreisen, dass solche Täter sich von Verbrechen wie dem Axt-Anschlag bei Würzburg ermutigt oder gar inspiriert fühlen könnten. Dass bei jenem äußerst kleinen Teil der Gesellschaft, der anfällig für solche Taten ist, womöglich die Hemmschwellen fallen. Befürchtet wird also, dass sich zwei fürchterliche Phänomene auf fürchterliche Weise befruchten könnten.
Noch gibt es keine Hinweise darauf. Doch mit Sorge sieht man in der Regierung das Ausmaß an halbwahren, vermeintlich sensationellen Informationen, das allein am Freitagabend auf elektronischem Weg verbreitet wurde - und zwar über die sozialen genau wie über die klassischen Medien. Auf diese Weise, fürchtet man, könnte sich der sogenannte Trigger-Effekt einer Tat wie in München noch einmal deutlich verstärken. Womit die Frage bleibt, was man daran eigentlich ändern könnte? Da ist man bislang auch in der Regierung ratlos.
Die Kanzlerin sagt bei ihrem Auftritt: "Ich kann jeden verstehen, der heute mit Beklommenheit auf eine Menschenmenge zugeht." Ihren "besonderen Dank" richtet sie an die Menschen in München, die gelassen geblieben seien und Fremden ihre Wohnungen geöffnet hätten. "In dieser Freiheit und Mitmenschlichkeit liegt unsere größte Stärke", sagte Merkel. Sie verspricht: "Wir werden aufklären und alles daransetzen, die Sicherheit und Freiheit aller Menschen in Deutschland zu schützen." Was sie nicht sagt: So weit es uns überhaupt möglich ist.