Ägypten unter Schock:Wie es zu einem der schwersten Anschläge in Ägyptens Geschichte kam

  • Bei einem Anschlag auf eine Moschee in der ägyptischen Provinz Sinai sind mindestens 305 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt worden.
  • Zunächst reklamierte niemand den Anschlag für sich. Er trägt aber die Handschrift des sogenannten IS, gegen den die Regierung im Sinai kämpft.

Von Paul-Anton Krüger, Kairo

Beim vermutlich schwersten Terroranschlag in Ägyptens Geschichte sind am Freitag laut dem Staatsfernsehen mindestens 305 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt worden. Mit automatischen Gewehren bewaffnete Angreifer attackierten eine Moschee in der Stadt Bir al-Abed im Nordsinai, 80 Kilometer westlich der Provinzhauptstadt al-Arisch. Laut Augenzeugen fuhren sie mit vier Geländewagen vor und zündeten einen oder mehrere Sprengsätze, als die Gläubigen die Al-Raudah-Moschee nach dem Mittagsgebet verließen. Dann feuerten sie auf die Flüchtenden. Möglicherweise waren auch Selbstmordattentäter an dem Anschlag beteiligt.

Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi berief ein Krisentreffen mit dem Innen- und Verteidigungsminister ein und ordnete drei Tage Staatstrauer an.

Sichtlich verärgert kündigte er in einer Fernsehansprache an, Militär und Polizei würden mit aller Härte Rache an den Tätern nehmen.

Zunächst reklamierte niemand den Anschlag für sich. Er trägt aber die Handschrift der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Für westliche Geheimdienste ist dessen Ableger auf dem Sinai der gefährlichste außerhalb des Iraks und Syriens. Während die Terrorgruppe in ihrem einstigen Kerngebiet vor der militärischen Niederlage steht, haben andere regionale Ableger zuletzt ihre Anschläge verstärkt.

Bisherige IS-Attacken galten vor allem Militär, Polizei und Justiz

Laut dem Staatsfernsehen handelt es sich bei dem Anschlagsziel um eine Sufi-Moschee. Sunnitische Extremisten wie der IS betrachten Anhänger dieser mystischen Strömung des Islam als Ungläubige. Es gab Berichte, dass auch Angehörige der Sicherheitskräfte in der Moschee gebetet hätten. Bisherige IS-Attacken galten vor allem dem Militär und der Polizei sowie Vertretern der Justiz. In den vergangenen zwölf Monaten griff der IS auch wiederholt christliche Kirchen und Pilger an; die orthodoxen Kopten sind mit einem Bevölkerungsanteil von geschätzt zehn Prozent die größte religiöse Minderheit im Land. Etwa 15 bis 20 Prozent der Muslime in Ägypten sollen dem Sufismus anhängen. Ihre prominentesten Vertreter sind der Großscheich der Al-Azhar-Universität, Ahmed el-Tayeb, und der frühere Großmufti Ali Gomaa, der im August 2016 einem Attentat entging.

In den Jahren 2011 bis 2013, nach dem Sturz des langjährigen Diktators Hosni Mubarak bis zur Machtübernahme des Militärs und dem Ende der Herrschaft der Muslimbruderschaft, kam es gelegentlich zu Attacken von Salafisten auf Schreine und Moscheen der Sufis, vor allem in Alexandria. In den vergangenen Monaten soll der IS wiederholt in Bir al-Abed Sufis bedroht, attackiert und getötet haben.

Gezielte Anschläge auf Moscheen waren in Ägypten allerdings bislang selten, anders als etwa im Irak und in Syrien, wo der IS schiitische Gotteshäuser attackiert.

Offenbar blieben die Angreifer in der Nähe und beschossen Krankenwagen

Im Norden des Sinai, der seit August 2013 unter Ausnahmezustand steht, führt das Militär Krieg gegen die "Provinz Sinai" des IS. Sie war aus der Terrorgruppe Ansar Beit al-Maqdis hervorgegangen, die sich 2014 dem IS anschloss. Nach offiziellen Angaben wurden seit 2013 mehrere Tausend Extremisten getötet; Hunderte Soldaten und Polizisten sind gefallen. Beim Kampf gegen den IS soll es wiederholt zu schweren Menschenrechtsverletzungen wie außergesetzlichen Hinrichtungen gekommen sein. Für westliche Journalisten ist die Provinz nicht zugänglich; unabhängige Informationen sind schwer erhältlich.

Bilder lokaler Medien aus Bir al-Abed zeigten, wie Überlebende Tote in der Moschee aufbahrten, die in ihrem Inneren allerdings keine Anzeichen für eine Bombenexplosion aufwies. Laut Augenzeugen blieben die Angreifer offenbar noch einige Zeit in der Nähe des Anschlagsorts und beschossen mehrere der 50 Krankenwagen, die von den Behörden in der Provinzhauptstadt al-Arisch geschickt worden waren.

Mehrmals hat die Regierung den Sieg über den IS verkündet, dennoch kommt es immer wieder zu schweren Attacken mit Dutzenden Toten. Am 31. Oktober 2015 hatte der IS eine Bombe an Bord eines russischen Ferienfliegers der Gesellschaft Kogalymavia geschmuggelt, der im Badeort Scharm el-Scheich mit Ziel Sankt Petersburg gestartet war. Bei der Explosion über der Sinai-Halbinsel starben alle 224 Menschen an Bord.

Die Luftwaffe fliegt Angriffe auf Terrorverdächtige und Schmuggler

Zuletzt war es im Nordsinai Mitte Oktober zu schweren Gefechten zwischen ägyptischen Sicherheitskräften und IS-Terroristen nahe dem Ort Scheich Zuweid gekommen. Im Zuge der Kämpfe feuerten die Extremisten zwei Raketen auf das benachbarte Israel ab. Sechs Soldaten und 24 Terroristen wurden laut offiziellen Angaben bei den Kämpfen getötet. Wiederholt hatte Ägypten die palästinensische Hamas im angrenzenden Gazastreifen beschuldigt, Terroristen auf dem Sinai zu unterstützen. Zuletzt hatten sich Hamas und die rivalisierende Fatah aber unter Vermittlung Kairos auf die Bildung einer Einheitsregierung geeinigt. Dafür soll die palästinensische Autonomiebehörde erstmals seit 2006 wieder die Kontrolle über die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten übernehmen.

Ende Oktober geriet eine Anti-Terror-Spezialeinheit des Innenministeriums 135 Kilometer von der Hauptstadt Kairo entfernt auf dem Weg in die Oase Bahariyah in der Wüste in einen Hinterhalt. Die Angreifer beschossen die beiden Radpanzer, die am Anfang und am Ende des Konvois fuhren, mit Panzerfäusten; damit waren auch die anderen Fahrzeuge gefangen. Dann feuerten sie mit automatischen Waffen auf die Polizisten und töteten alle Offiziere; einige Rekruten ließen sie leben. Insgesamt wurden nach offiziellen Angaben 16 Polizisten getötet. Zu der Attacke bekannte sich die zuvor nicht bekannte Gruppe Ansar al-Islam, die möglicherweise Kontakte zum Terrornetzwerk al-Qaida hat.

Damit würde sich die ägyptische Regierung mit einem Zweifrontenkrieg gegen Terroristen konfrontiert sehen.

Seither fliegt die ägyptische Luftwaffe regelmäßig Angriffe auf Terrorverdächtige und Schmuggler in dem schwer zugänglichen Wüstengebiet, das an Libyen grenzt.

Präsident al-Sisi besetzte wenig später 16 führende Positionen im Sicherheitsapparat um, ohne dies direkt in Verbindung mit dem Angriff zu bringen. Ausgetauscht wurde unter anderem der Generalstabschef der Armee.

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