Ägypten und der Nahostkonflikt:Tage des Zorns

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"Wir stehen an der Seite der Palästinenser": Ägyptens Präsident Mursi muss als Islamist Solidarität mit dem Brudervolk zeigen - ob er will oder nicht. Sein Premierminister Kandil reist mit einer hochrangigen Delegation zum Solidaritätsbesuch in den Gazastreifen. Für die Beziehungen zu Israel ist die Entwicklung brandgefährlich.

Tomas Avenarius, Kairo

Ägyptens Premierminister Hischam Kandil bei seinem Treffen mit dem Hamas-Führer Ismail Hanija am Freitag in Gaza-Stadt. (Foto: AFP)

Erst der Antrag auf ein Sondertreffen der Arabischen Liga, dann die ebenfalls erfolgreiche Forderung nach einer Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats. Dazu den ägyptischen Botschafter in Israel umgehend zurück nach Kairo bestellt, das Kabinett zur Krisensitzung zusammengerufen. Danach der öffentliche Appell an die Supermacht USA: Washington möge sein ganzes Gewicht einsetzen und "sofort intervenieren, um die israelische Aggression zu stoppen". Und schließlich der wichtigste Schritt: Premierminister Hischam Kandil reist an diesem Freitag mit einer hochrangigen Delegation zum Solidaritätsbesuch in den Gazastreifen, um eine Waffenruhe mehr oder weniger zu erzwingen.

Ägyptens international unerfahrener Islamisten-Staatschef Mohammed Mursi zog alle Register. Er reagierte professionell auf die neue israelisch-palästinensische Konfrontation. Mursi selbst telefonierte mit US-Präsident Barack Obama, sein Außenminister Mohammed Kamel Amr übermittelte der Kollegin Hillary Clinton die unmissverständliche Botschaft: Washington solle Israel von der angekündigten Ausweitung seiner Angriffe abhalten, bevor es zu einem Gaza-Krieg, möglicherweise sogar zu einer regionalen Krise komme. Der Muslimbruder sagte in einer landesweit übertragenen Fernsehansprache aber ebenso laut das, was sein eigenes Volk erwartet: "Wir stehen an der Seite der Palästinenser, um die israelische Aggression zu stoppen."

Trotz aller Professionalität beim Kairoer Krisenmanagement: Der Angriff der israelischen Luftwaffe auf das Palästinensergebiet an der ägyptischen Grenze kommt für Mursi und das neue Ägypten zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Die in Gaza regierende Hamas ist eine Tochterorganisation der ägyptischen Muslimbrüder; die Muslimbrüder sind die informelle Dachorganisation, die Übermutter islamistischer Sunni-Gruppen weltweit. Solidarität mit den Palästinensern wird von allen Arabern erwartet, Unterstützung für die radikalislamische Hamas aber ist für Mursi und seine Brüder ein Muss.

Mursi muss Vorzeigbares liefern

In Oppositionszeiten unter Hosni Mubarak war das billig und folgenlos: Demonstrationen und Parolen, ohne jeden Effekt. Mursi aber, auch wenn er offiziell seine Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern niedergelegt hat, muss Vorzeigbares liefern. Im Wahlkampf und nach seinem Amtsantritt im Juli hatte der Islamist den Ägyptern versprochen, dass es vorbei sei mit der Stillhaltepolitik Mubaraks. Der hatte den Israelis im Gaza-Krieg 2008/2009 freie Hand gelassen, hatte die Grenze zwischen dem Palästinensergebiet und Ägypten nicht geöffnet, selbst Hilfskonvois und Ärzteteams nur widerwillig passieren lassen.

Der Realpolitiker Mubarak hatte sich an die internationalen Absprachen gehalten, hatte sich den USA und den Europäern gefügt. In den Augen der Mehrheit der Ägypter und der meisten Araber kapitulierte der Staatschef damit vor Israel, das dank konsequenter US-Rückendeckung im Nahen Osten ein Hegemon wurde. Die rund 1600 Gaza-Bewohner und Militanten, die bei den israelischen Luftangriffen und der darauf folgenden Bodenoffensive starben, gingen daher nach Meinung vieler Ägypter auch auf das Konto von Mubarak und seiner Appeasement-Politik im Umgang mit Israel.

De facto hat Mursi, der Anti-Mubarak, wenig Möglichkeiten, glaubwürdiger aufzutreten als sein gestürzter Vorgänger. Er kann an die USA und Israel appellieren, ja. Aber auch er bleibt auf die jährlich 1,5 Milliarden Dollar Militärhilfe aus Washington angewiesen. Auch er muss den ägyptisch-israelischen Camp-David-Friedensvertrag peinlich genau einhalten. Doch wenn wochenlang Bomben auf den winzigen Gazastreifen mit seinen 1,7 Millionen Bewohnern fallen würden oder es zu einer israelischen Bodenoffensive käme, würde die Forderung nach einer Öffnung der Grenze durch Ägypten sehr schnell folgen. Dann könnten die Kämpfe auf die Sinai-Halbinsel überschwappen. Es würden nicht nur Flüchtlinge nach Ägypten kommen, sondern auch zahlreiche der rund 35.000 Hamas-Kämpfer.

Die Gefahr, dass ein neuer Gaza-Konflikt auf den Sinai übergreift, besteht ohnehin. Auf der Wüsten-Halbinsel, eineinhalb mal so groß wie die Schweiz, haben sich seit der Revolution im Januar 2011 Hunderte Dschihadis und Militante ausgebreitet. Sie kommen aus Ägypten, Libyen und anderen arabischen Staaten, zum Teil durch die geheimen Tunnel auch aus dem Gazastreifen. Der unzugängliche und gebirgige Sinai wird in Zeitungsberichten bereits als "Tora-Bora Ägyptens" bezeichnet, also mit jenem Bergmassiv in Afghanistan verglichen, in dem al-Qaida unter Osama bin Laden sein Hauptquartier hatte.

Die al-Qaida-nahen Gruppen auf dem Sinai töten fast wöchentlich Polizisten. Beim folgenschwersten Angriff innerhalb der vergangenen Monate überfielen Militante ein Feldlager der Grenztruppen, erschossen eine Reihe der gerade das Ramadan-Fasten brechenden Soldaten und durchbrachen mit einem gestohlenen Schützenpanzer die Grenzbefestigung zu Israel. Dort wurden sie schließlich von einem israelischen Kampfhubschrauber ausgeschaltet.

Die Krise findet während innenpolitischer Verwerfungen in Ägypten statt

Ägyptens Armee hingegen macht bei ihrer seit Monaten laufenden Anti-Terror-Operation "Adler" auf dem Sinai kaum Fortschritte, bekommt das dünn besiedelte Gebiet nicht unter Kontrolle. Die seit Jahrzehnten von Kairo marginalisierte Beduinen-Bevölkerung sympathisiert mit den militanten Islamisten, ist anfällig für deren Propaganda. Unruhe im Gazastreifen und noch mehr jede militärische Eskalation wird auf dem Sinai sofort zu spüren sein.

Die israelisch-palästinensische Krise findet ohnehin statt in einer Zeit innenpolitischer Verwerfungen in Ägypten. Der Staat hat kein Parlament, die neue Verfassung lässt auf sich warten, die Wirtschaft erholt sich nicht, der dringend benötigte IWF-Kredit steht aus. Bringt Mursi sein Land nicht bald spürbar nach vorn, könnten die Proteste auf dem Tahrir in Kairo wieder losgehen - diesmal gegen Ägyptens Islamisten-Staatschef. Mangelnde Solidarität mit der Hamas und den Palästinensern wird sich Mursi in dieser Situation nicht auch noch vorwerfen lassen wollen.

Aus all diesen Gründen hatte Ägyptens Gaza-erfahrener Geheimdienst wochenlang versucht, auf die Hamas einzuwirken, damit sie nicht weiter Raketen auf Israel schießt. Das war schwierig. Auch in Israel weiß man, dass die Raketenangriffe oft nicht von den Kassam-Brigaden, dem militanten Teil der Hamas, ausgehen. Es sind häufig Splittergruppen wie der "Islamische Dschihad", die auf die Städte und Dörfer in Südisrael zielen und die sich dem Regime der Hamas-Regenten oft genug widersetzen. Der gerade erreichte Waffenstillstand war entsprechend brüchig.

Mit der Exekution des Hamas-Militärchefs Ahmed al-Dschabari per Raketenangriff haben ihn die Israelis ohne Vorwarnung gebrochen. So gerät Islamist Mursi immer mehr unter Druck, international und im eigenen Land. Am Freitag soll es Großdemonstrationen in Kairo und anderen arabischen Hauptstädten geben. Das Motto: "Tage des Zorns".

© SZ vom 16.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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