Urteilsverkündung im Fall Oscar Pistorius:Absicht ist Auslegungssache

Lesezeit: 2 min

Von Journalisten umringt verlässt Oscar Pistorius am Donnerstag das Gericht. Am Freitag wird die Urteilsverkündung fortgesetzt. (Foto: AFP)

Wollte Oscar Pistorius seine Freundin töten? Dafür gibt es keine Beweise. Nahm er ihren Tod in Kauf? Nein, sagt die Richterin - und provoziert eine hitzige Diskussion.

Von Lena Jakat

Interpretationen von Wahrheit und Gesetz würden den Prozess gegen Oscar Pistorius bestimmen. Und entscheiden. Das war vom ersten Verhandlungstag an klar. Diese Auslegungen würden darüber entscheiden, ob der 27-Jährige, der vor eineinhalb Jahren noch ein Blitzlicht-Leben als nationale Sportikone genoss, die kommenden Jahre im Gefängnis verbringt oder den High Court von Pretoria womöglich als freier Mann verlässt. Die Frage war nie, ob er seine Freundin Reeva Steenkamp erschossen hat, das hat er selbst schließlich nie bestritten. Sondern, ob er sich einer Straftat schuldig gemacht hat. Und wenn ja, welcher. Pistorius beteuert, Steenkamp für einen Einbrecher gehalten und versehentlich getötet zu haben.

Eine - ganz zentrale - Auslegungssache war die Frage nach der Absicht. Wer jemand anderen absichtlich tötet, kann in Deutschland wegen Mordes oder wegen Totschlags verurteilt werden. Totschlag ist das Delikt, das mit der geringeren Strafe geahndet wird. Der Tat fehlen Mordmerkmale wie niedrige Beweggründe oder Heimtücke. In Südafrika gilt beides als murder - Mord - dort wird jedoch zwischen premeditated (vorausgeplantem) murder und murder unterschieden. Das Unterscheidungsmerkmal ist also die Frage nach der Art des Vorsatzes. Für den Prozess gegen Oscar Pistorius heißt das zu allererst: Wollte der Athlet Steenkamp beziehungsweise den mutmaßlichen Eindringling töten?

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In Pretoria endet der Prozess gegen Oscar Pistorius mit der Urteilsverkündung. Richterin Thokozile Masipa spricht Pistorius der fahrlässiger Tötung schuldig. Das Strafmaß wird in einigen Wochen erwartet

An diesem Donnerstag nun hat sich Richterin Masipa zu dieser Frage geäußert. Dass Pistorius die volle Absicht - und damit premeditated murder - ihrer Ansicht nach nicht nachgewiesen werden konnte, dürfte kaum einen Prozessbeobachter überrascht haben. Viele gingen jedoch davon aus, dass Richterin Masipa einen Eventualvorsatz sehen würde. Dolus eventualis ist zweifellos die meistgenutzte Lateinvokabel des Tages. Sie bedeutet, dass sich jemand der etwaigen Todesfolge seiner Tat bewusst ist und sich mit ihr zumindest abgefunden hat. Nahm Oscar Pistorius mehr als nur billigend in Kauf, die Person in der Toilette zu töten, als er die Schüsse durch die Tür abgab, nach dem Motto: Und wenn schon?

Dramatische Urteilsverkündung in Pretoria

Reeva - der vermeintliche Eindringling - konnte nirgendwohin fliehen, Pistorius schoss viermal rasch hintereinander in die enge Toilettenkabine, mit Munition, die besonders schwere Verletzungen verursacht. "Hat der Angeklagte die Möglichkeit der tödlichen Folge vorhergesehen und seine Handlung fortgesetzt?", stellt die Richterin am Donnerstagvormittag die Frage in den Raum.

Zu diesem Zeitpunkt hat die 66-Jährige schon mehr als drei Stunden lang ihre Urteilsverkündung verlesen. Sie hat den Prozess ruhig und zurückhaltend geführt, so viel wie an diesem 42. Prozesstag hat sie während des gesamten Verfahrens nicht gesprochen. Sie hat die Argumentation der Staatsanwaltschaft Punkt für Punkt auseinandergenommen. Sie hat Zeugenaussagen als unverlässlich weggewischt und Oscar Pistorius als schlechten Zeugen dargestellt, als sie zu dieser Frage kommt: Hat er die Möglichkeit der tödlichen Folge vorhergesehen?

Ihre Antwort: "Nein." Oscar Pistorius könne der Tötung mit Eventualvorsatz nicht für schuldig befunden werden. Damit sind beide Formen von murder - in etwa vergleichbar mit Mord und Totschlag in Deutschland - vom Tisch.

Prozessbeobachter sind überrascht, verwirrt. In den Live-Sendungen der Radiosender und bei Twitter äußern renommierten Juristen auch prompt Kritik:

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Was nach einer akademischen Debatte klingt, könnte für Pistorius sehr alltagsweltliche Konsequenzen haben. In Südafrika kann die Staatsanwaltschaft in Revision gehen, wenn die Anklagevertreter zur Überzeugung gelangen, dass Masipa einen Rechtsgrundsatz falsch ausgelegt hat. Den des dolus eventualis, zum Beispiel.

Am Donnerstagnachmittag, kurz bevor sie die Urteilsverkündung bis zum Freitag unterbricht, sagt Masipa, Pistorius habe fahrlässig gehandelt. Wahrscheinlich scheint nun eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung.

Welchen Stress diese dramatische südafrikanische Art der Urteilsverkündung, bei der das Urteil ganz am Ende steht, für den Angeklagten hat, mag man sich kaum vorstellen. Wird er tatsächlich wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, hat das Warten für Pistorius aber noch lange kein Ende. Das Strafmaß wird erst in einigen Wochen erwartet - und das liegt bei diesem Delikt ganz im Ermessen der Richterin.

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