Streit um Glockengeläut in Thüringen:"Hier herrscht Krieg"

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Im thüringischen Möhrenbach macht eine Kirchenglocke Ärger - die einen lieben die Tradition, die anderen hassen das Gebimmel. Auch in anderen ostdeutschen Gemeinden, in denen die Kirchen immer leerer werden, formieren sich die Glocken-Gegner.

Christiane Kohl

Eine hügelige Landschaft aus Wald und Wiesen umgibt das thüringische Dorf Möhrenbach. Einige Häuser des Ortes, die sich am steilen Berghang teilweise wie alte Freunde aneinanderlehnen, leuchten in bunten Farben; andere sind mit grauen Schieferschindeln verkleidet - ein Dörfchen wie viele im Thüringer Wald. Im Dorfbrunnen plätschert das Wasser, aus der Ferne hört man einen Kuckuck rufen, und in der hübschen Kirche mit dem goldenen Knopf auf dem hohen, schlanken Kirchturm steht in grüner Schrift über dem Eingangsportal geschrieben: "Friede sei mit Euch". Doch ausgerechnet das Gotteshaus ist es, um das im Dorf nun ein Streit entbrannt ist - genauer gesagt geht es um die Kirchenglocken.

Die mittelalterliche Domglocke "Gloriosa" wurde 2004 in Thüringens Hauptstadt Erfurt nach zweimonatigen Reparaturarbeiten noch von einer euphorischen Menge begrüßt - doch sorgt Kirchengeläut nicht überall für Jubel. (Foto: ddp)

Das tägliche Geläut, zur vollen Stunde und auch zwischendurch, ist seit alters her üblich in Möhrenbach. Der Zimmermann Horst Stieler aber, der mit seiner Familie an der Kirche wohnt, findet das stündliche Gebimmel zu laut. Seine Frau habe bereits einen Herzinfarkt davon bekommen, seine Enkel fielen in ihren schulischen Leistungen ab, klagt der 59-Jährige - daher müsse der Stundenschlag abgestellt werden. Dagegen aber wehren sich viele andere Bewohner, für die das Geläut zum Ort gehört wie die Kirche selber. Mehr als 200 Unterschriften wurden dafür gesammelt, dass die Glocke im Dorf bleiben möge - von den etwa 700 Einwohnern hat fast jeder zweite Erwachsene unterschrieben. Horst Stieler aber meint, dass viele Unterschriften "nur unter Zwang geleistet" wurden. Er will notfalls den Rechtsweg beschreiten, wenn die Gemeinde das Geläut nicht abschaltet.

"Ich muss das nicht dulden", sagt Stieler und verweist auf eine Lärmmessung vor seiner Haustür, wonach die Lautstärke des Gebimmels um 17 Dezibel über dem Richtwert nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz gelegen habe. Im Ordnungsamt der Gemeindeverwaltung ist Sachbearbeiter Jürgen Wagner hingegen der Ansicht, dass "das Geläut zur dörflichen Geräuschkulisse gehört wie das Hahnkrähen". Aber selbst um "die Gickelhähne" gibt es in Möhrenbach bereits Streit, wie Bürgermeisterin Peggy Huthmann stöhnt: "Hier herrscht richtig Krieg im Dorf", sagt sie, "aber keiner sagt dem anderen die Wahrheit ins Gesicht."

Religionsfreiheit kennt keine Lärmgrenze

Was den Streit ums Kirchengeläut betrifft, so steht Möhrenbach keineswegs allein auf weiter Flur. Landauf, landab haben sich immer wieder Gerichte damit befasst, ob Anwohner den täglichen Stundenschlag tolerieren müssen - in Juraklausuren gilt das Problem bereits als Klassiker, denn rechtlich gilt es, feine Unterschiede zu berücksichtigen. Rufen die Glocken zum Gottesdienst, handelt es sich um das "liturgische Geläut": Dann dürfen die Glocken so laut sein wie sie wollen, die Religionsfreiheit kennt keine Lärmgrenzwerte. Handelt es sich aber um "weltliches Geläut", wird die Sache komplizierter. So ist der Stundenschlag in vielen Dörfern zwar ein jahrhundertealter Brauch, doch sehen die Lärmschutzbestimmungen keine Sonderregelungen hierfür vor - weshalb für das Stundengebimmel ein Richtwert von 60 Dezibel gilt.

Je weniger Gläubige die Kirchen zählen, desto mehr Menschen betrachten das Geläut als Ruhestörung. Im Gebiet der einstigen DDR haben Kirchen besonders wenig Mitglieder: "Wenn Gottesdienst ist", berichtet Lothar Ottmann, der Kirchenälteste in Möhrenbach, "dann finden sich hier vielleicht zehn Leute in der Kirche ein." Seit mehr als 40 Jahren ist der Schreiner im Gemeindevorstand, so einen Ärger wie jetzt hat er noch nie erlebt.

Dabei hatte man es zu DDR-Zeiten keineswegs einfach als gläubiger Christ. Ottmann erinnert sich an das 150. Jubiläum der Kirchweihe 1968: "Da sind wir vom Pfarrhaus aus alle gemeinsam in die Kirche gezogen", erzählt der 77-Jährige, damit nicht Einzelne herausgegriffen werden konnten. Tags drauf erkundigten sich Stasimänner im Ort nach den Kirchgängern. Damals war ans Stundengeläut nicht zu denken. Das änderte sich 1990, als westliche Kirchengemeinden den Möhrenbachern eine Funkuhr stifteten. Seither ist das Geläut wieder voll intakt - und das ist für Familie Stieler ein Problem.

In Möhrenbach wie auch in anderen Gemeinden rundum gibt es nämlich eine regionale Besonderheit: Die Kirchtürme der Dörfer im Schwarzburger Land, wie die Gegend auch genannt wird, sind besonders zierlich und schlank - für eine dicke, schwere Glocke ist da kein Platz. Deshalb gehört zu den Gotteshäusern zumeist ein Glockenhäuschen, das neben der Kirche steht - in Möhrenbach wurde es wie diese 1818 nach dem großen Brand im Dorf wieder errichtet, wie auch die Kirche. Dank der Funkuhr kann Lothar Ottmann heute das Geläut im Glockenhäuschen von einem grauen Schaltkasten aus steuern, der auf der Empore in der Kirche hängt. Zur vollen Stunde leuchtet ein roter Knopf - und schon läutet es.

"Für mich ist das Glockenläuten wie ein Gebet", sagt Ottmann. Horst Stieler sieht das anders: Vor mehr als 30 Jahren zog er mit seiner Familie in den Ort, und zwar just neben das Glockenhäuschen. Bis heute gelten die Stielers manchen Möhrenbachern als Fremde. Und dies umso mehr, seit der Krach um das Geläut ausbrach. Obendrein hat sich noch ein Westdeutscher eingemischt: Ein älterer Herr aus München, der zwar selten kommt, wie Nachbarn sagen, aber auch über das Gebimmel klage. "Es stört ihn wohl, wenn er im Garten sitzt", sagt eine Nachbarin.

So ist ein munterer Nachbarschaftsstreit im Gange. Ende der 90er Jahre hatte der damalige Bürgermeister die Sache durch einen technischen Trick gelöst: Er ließ eine Art Klingelschale in den Kirchturm einbauen, mit der zur vollen Stunde geläutet wurde - das Gebimmel war kaum irgendwo zu hören, weshalb es auch die Stielers nicht störte. Doch vor einigen Monaten bekam die Klingelschüssel einen Riss, daraufhin nahm die Kirchengemeinde das Glockenhäuschen wieder in Betrieb. Seither tobt der Krieg in Möhrenbach. Zwar beschloss der Gemeinderat im Frühjahr, das Stundengeläut über Nacht zwischen 22 und sechsUhr abzuschalten. Stieler aber genügt das nicht, er verlangt, dass auch tagsüber das Stundengeläut leiser sein müsse, weshalb die Klingelschüssel im Kirchturm repariert werden solle. Das ist jedoch eine Kostenfrage: Fürs weltliche Geläut wäre die Gemeinde zuständig, doch "unsere Kasse ist leer", sagt Bürgermeisterin Huthmann.

© SZ vom 23.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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