Spektakuläre Festnahme in Boston:Mutmaßlicher Attentäter lebend gefasst

Dramatische Nacht in Boston: Die Polizei hat den 19-jährigen mutmaßlichen Marathon-Attentäter Dschochar Zarnajew gefunden, eingekreist und schließlich lebend festgenommen. Er hatte sich verletzt in einem abgestellten Boot auf einem Grundstück versteckt. Präsident Obama fordert intensive Ermittlungen - Zarnajews älterer Bruder geriet bereits 2011 unter Terrorismus-Verdacht.

Von Stefan Plöchinger und Matthias Huber

Als Barack Obama in dieser dramatischen Nacht vor die Kameras trat, war er erleichtert. "Fünf lange Tage" lägen hinter der Nation, sagte der US-Präsident. "An diesem Abend steht unsere Nation in der Schuld der Bewohner von Boston und Massachusetts."

Eine gute Stunde zuvor war im Bostoner Vorort Watertown eine der spektakulärsten Polizeiaktionen der vergangenen Jahre zu Ende gegangen: die Großfahndung nach Dschochar Zarnajew, dem mutmaßlichen zweiten Marathon-Attentäter. Und dies, ohne dass der Verdächtige ums Leben kam. Es ist ein Erfolg, an den kurz zuvor kaum noch jemand geglaubt hatte.

Den gesamten Freitag hatte die Polizei eine Ausgangssperre verhängt und erfolglos Watertown durchkämmt — auf der Suche nach dem 19-Jährigen, der mit seinem nachts zuvor getöteten Bruder Tamerlan das Leben von vier Menschen auf dem Gewissen haben soll. Die Ermittler hatten die Großfahndung nach ihm gerade für beendet erklärt, gegen ein Uhr nachts deutscher Zeit, als dann plötzlich nahe eines Grundstücks in dem Ort eine Salve Schüsse die abendliche Stille durchbrach. Ein riesiges Aufgebot der Sicherheitskräfte rückte an, stundenlange Belagerung, Rätselraten, dann erste Berichte in US-Medien: Die Polizei sei sicher, sie habe Dschochar Zarnajew auf einem Grundstück an der Franklin Street eingekreist. Er verstecke sich in einem dort abgestellten Boot. Man habe die Hülle des Bootes entfernt, der Verdächtige befinde sich verletzt darauf, werde von einem Hubschrauber aus beobachtet, und ein Kameraroboter werde eingesetzt.

"Wir haben ihn"

Blendgranaten wurden verschossen, um den Mann zu verwirren. "Wir wissen, dass Sie da drin sind. Kommen Sie freiwillig heraus, mit erhobenen Händen", zitierte ein Fotograf des Boston Globe Polizisten. NBC berichtete von einem Unterhändler der Polizei, der mit dem Verdächtigen verhandle. Zwei Stunden ging das so.

Dann, kurz vor drei Uhr, kam Bewegung in die Szenerie. Ein Krankenwagen fuhr auf das Grundstück, Gerüchte über eine Festnahme machten die Runde — bis Bostons Polizei twitterte: "Gefasst!" Die Jagd, die Suche und damit der Terror seien vorüber, die Gerechtigkeit habe gesiegt.

Bostons Bürgermeister verschaffte letzte Gewissheit: "Wir haben ihn", notierte Tom Menino. Auf Twitter verbreiteten US-Medien inzwischen Bilder, die angeblich von Bostoner Polizisten stammen und die die Verhaftung zeigen sollen; auf dem Bild ist der Mann am Boden im Gesicht blutverschmiert:

Ersten offiziellen Angaben zufolge ist die Festnahme Zarnajews dem Hausbesitzer zu verdanken. Er habe nach Aufhebung der Ausgangssperre sein Boot auf seinem Grundstück inspiziert. Der Mann sah Blutspuren auf der Abdeckplane, hob sie hoch und entdeckte darunter einen blutbedeckten Körper. Er habe dann den Polizeinotruf gewählt. Die Behörden hätten zunächst einen Hubschrauber mit einer Wärmebildkamera eingesetzt und festgestellt, dass ein lebendiger Mensch im Boot sei, teilte die Polizei mit. Auch davon verbreiten US-Medien inzwischen angebliche Aufnahmen:

Die Polizisten wurden nach dem Einsatz in der Nachbarschaft mit Beifall und Dankerufen bejubelt. Polizeichef Edward Davis sagte, an diesem Tag könne man stolz sein, in Bostons Polizei zu sein. Dass der Verdächtige bei der Großfahndung im Laufe des Freitags nicht gefunden wurde, begründete er damit, man habe den Block mit dem Grundstück knapp nicht im Visier gehabt.

Obama: Was hat sie getrieben, hatten sie Helfer?

Präsident Obama dankte in seiner Rede den Einsatzkräften und lobte die Koordination der Sicherheitsbehörden. Die große Frage sei nun, warum zwei Brüder, die in den USA aufgewachsen sind, sich gegen dieses Land gewendet haben. "Was immer sie dachten erreichen zu können, ist ultimativ gescheitert." Eine tiefgehende Untersuchung sei wichtig, "wir müssen das richtig machen". Dafür habe man Ermittlungen und Gerichte. Obama versprach, die Hintergründe der Tat vollständig aufzuklären. "Wie haben sie die Attacken geplant und ausgeführt? Und haben sie dabei Hilfe bekommen?", fragte er. Die Familien der Getöteten und die Verwundeten verdienten Antworten, sagte der Präsident. "Ich habe das FBI, das Heimatschutzministerium und unsere Geheimdienste angewiesen, weiterhin alle notwendigen Mittel einzusetzen, um die Ermittlungen zu unterstützen."

Bereits 2011 geriet Tamerlan Zarnajew ins Fadenkreuz des FBI. Einer Pressemitteilung der Bundespolizei zufolge hatte eine ausländische Regierung um die FBI-Akte über Zarnajew gebeten - weil er radikaler Islamist sei und plane, sich nicht näher genannten "Untergrundgruppen" anschließen zu wollen. Die anschließenden Ermittlungen der US-Behörde blieben aber ohne Ergebnis.

Nachdem nun sein jüngerer Bruder, Dschochar Zarnajew, lebendig festgenommen wurde, könnte die Öffentlichkeit Klarheit über das Motiv der Attentäter bekommen. Wie schwer er genau verletzt ist, ist nicht bekannt. Sein Zustand sei "ernst", teilte die Polizei mit, äußerte sich aber nicht zu Details. Der Mann wurde ins Krankenhaus gebracht. US-Medien spekulieren, dass er nicht im Zuge seiner Festnahme, sondern schon in der Nacht zum Freitag während jenes Schusswechsels mit der Polizei verletzt wurde, bei dem sein Bruder Tamerlan starb.

Staatsanwältin Carmen Ortiz sagte auf der ersten Pressekonferenz nach der Festnahme, die Ermittlungen gingen weiter. Details zum Fall könne sie noch nicht herausgeben, das sei erst in den kommenden Tagen möglich. Auf die Frage, ob sie für den Verdächtigen die Todesstrafe fordern wolle, antwortete sie, man werde erst alle Fakten prüfen. Ihre Gedanken und Gebete seien bei den vier Opfern der Terroristen. Gouverneur Deval Patrick dankte der Öffentlichkeit und den Medien für die Mithilfe bei der Fahndung.

Drei Verdächtige vernommen

Spektakuläre Festnahme in Boston: Dschochar Zarnajew, 19: Er soll mit seinem Bruder den Anschlag auf den Boston-Marathon ausgeführt haben — seine Festnahme überlebte er verletzt

Dschochar Zarnajew, 19: Er soll mit seinem Bruder den Anschlag auf den Boston-Marathon ausgeführt haben — seine Festnahme überlebte er verletzt

(Foto: AP)

US-Medien zufolge hat die Bundespolizei FBI am Freitagabend drei Verdächtige im Zusammenhang mit dem Anschlag verhört. Dem Nachrichtensender CNN zufolge soll es sich um zwei Männer und eine Frau handeln. Der Boston Globe berichtet, die Verdächtigen seien in Gewahrsam genommen worden. Die Polizei habe ihre Wohnung in der Nähe der Universität von Massachusetts-Dartmouth durchsucht, an der Dschochar Zarnajew als Student eingeschrieben war.

Dschochar Zarnajew ist auf den Fahndungsfotos der Mann mit dem weißen Baseball-Cap. Er und sein ebenfalls wegen der Marathon-Attentate gesuchter Bruder Tamerlan, 26, hatten sich in der Nacht auf Freitag in Watertown eine Schießerei und Verfolgungsjagd mit der Polizei geliefert. Auf dem Campus der Elite-Universität Massachusetts Institute of Technology (MIT) erschossen sie einen Polizisten, überwältigten einen Autofahrer und ergriffen mit ihm als Geisel die Flucht. Eine halbe Stunde später wurde der Mann an einer Tankstelle unverletzt freigelassen. Verfolgt von der Polizei, warfen die beiden Flüchtigen Sprengsätze aus dem Auto und schossen auf die Streifenwagen. Die Polizisten schossen zurück. Tamerlan Zarnajew starb schließlich tödlich verletzt in einem Krankenhaus.

Während der am Freitag folgenden Fahndung nach Dschochar Zarnajew waren Tausende Polizisten im Einsatz. Über Boston kreisten Polizeihubschrauber, das öffentliche Leben war lahmgelegt: Autos, Busse, U-Bahnen und Taxis, selbst die Fernzüge fuhren nicht. Die Polizei forderte die Menschen in ganz Boston auf, ihre Häuser nicht zu verlassen und sich einzuschließen. Erst kurz vor dem erneuten Großeinsatz in Watertown, bei dem der Flüchtige dann gefasst wurde, hob die Polizei diese Warnung auf und teilte mit, der Mann sei wohl entkommen — um dann vom Gegenteil überzeugt zu werden.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: