Prozess um Methadon-Tod von Chantal:Alles in Ordnung, sagt die Schwester

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Die Pflegemutter von Chantal muss sich vor Gericht verantworten. (Foto: dpa)
  • Die elfjährige Chantal starb in Hamburg an einer Überdosis Methadon. Im Prozess gegen ihre Pflegeeltern sagen die Pflegeschwester, ein Gerichtsmediziner und Sozialarbeiter aus.
  • Chantal soll die Heroin-Ersatzdroge in der Wohnung ihrer Pflegeeltern gefunden haben.
  • Die Pflegeeltern sind wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht angeklagt.

Von Hannah Beitzer, Hamburg

Ein Mädchen ist tot. Gestorben am 16. Januar 2012 in der Wohnung seiner Pflegeeltern in Hamburg-Wilhelmsburg an einer Überdosis der Heroin-Ersatzdroge Methadon. Chantal wurde nur elf Jahre alt. Wie ist das passiert?

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hat sie dort die Droge in der Wohnung ihrer Pflegeeltern gefunden, sie versehentlich eingenommen, weil sie sich nicht wohl fühlte. Die Eltern seien nicht zu Hause gewesen, der Pflegevater hätte sich auch am nächsten Tag, als Chantal kaum mehr bei Bewusstsein war, nicht um sie gekümmert. Die Pflegeeltern sind wegen fahrlässiger Tötung und Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht angeklagt.

Chantal lebte seit 2008 in der Familie. Ihre leibliche Mutter war alkoholabhängig, ihr Vater drogenabhängig. Deswegen kam sie mit acht Jahren in die Familie der Nachbarn, die dann ihre Pflegeeltern wurden.

Der Prozess gibt nun Einblicke in das Leben der Pflegefamilie - doch die sind ziemlich widersprüchlich. Das zeigte die Vernehmung der heute 19-jährigen leiblichen Tochter der Pflegeeltern. "Er war immer für uns da", sagt sie über ihren Vater. "Meine Mutter hat immer aufgeräumt", über die Mutter. Gab es Drogen in der Wohnung? "Nein, niemals." Alkohol? "Wir hatten mal Alsterwasser, glaube ich. Das hat der Papa geschenkt bekommen. Aber Mama hat nicht mal zu Silvester Sekt getrunken." Hat die Tochter sie jemals Medikamente nehmen sehen? "Einmal hat meine Mutter Aspirin genommen, wegen der Migräne." Hatten die Kinder Zugang zu Alkohol oder Drogen? "Mama hat uns nicht mal Zigaretten für sie holen lassen."

Und Chantal? "Sie war wie eine Schwester für mich. Sie hat ja auch 'Mama' zu meiner Mutter gesagt." Haben die Eltern sie oft allein gelassen? "Die waren eigentlich immer da." Nur an dem Abend, an dem Chantal die Methadon-Tablette nahm, sei ihre Mutter weg gewesen. Und der Vater, wo war der? Daran kann sich Alisha nicht mehr erinnern, wie an vieles, mit dem das Gericht sie konfrontiert. Hat sie zum Beispiel noch mit Chantal gesprochen, als diese am nächsten Tag halb bewusstlos im Bett lag? Das hatte sie gegenüber der Polizei ausgesagt. "Ich wurde da so unter Druck gesetzt, dass ich heulend rausgegangen bin", sagt Alisha über die Vernehmung. Und: "Das ist ja eine Schocksituation, als Chantal gestorben ist." Nach der Aussage bricht sie abermals in Tränen aus. Für die Widersprüche, in die sie sich verwickelt, hat sie keine rechte Erklärung.

Widersprüchliche Aussagen zur Familie

Für ihre Version der Geschichte - im Grunde verantwortungsbewusste Eltern, nur kleinere Konflikte - sprechen auch andere Aussagen. Chantals Klassenlehrerin etwa sagte aus, das Mädchen habe bei ihren Pflegeeltern in einfachen, aber geordneten Verhältnissen gelebt. Chantal sei "wohlerzogen" und "sehr gut organisiert" gewesen.

Ein Pastor und eine Pädagogin, die über mehrere Monate Chantal an Nachmittagen betreut hatten, zeichneten ebenfalls ein positives Bild der Familie. "Es war alles völlig in Ordnung", sagte die Frau. Die Angeklagte habe zwei Gesichter gehabt: "Eine Seite war sehr großzügig und liebevoll, die andere war manchmal auch etwas rau, aber nie brutal."

Fest steht jedoch: Die angeklagten Pflegeeltern nahmen seit Anfang der neunziger Jahre die Heroin-Ersatzdroge Methadon. Laut Aussage des Hausarztes hatte das Paar die Einnahme jedoch immer wieder unterbrochen. Noch 2011 konnte einmal in einer Urinprobe des Pflegevaters Heroin nachgewiesen werden.

Ein Mitarbeiter des Jugendamtes sagte außerdem, der Zustand der Wohnung sei "grenzwertig" gewesen. Die Räume hätten stark nach Tieren gerochen und seien sehr unordentlich gewesen. "Es herrschte ein Tohuwabohu." Das Mädchen sei gut in der Familie aufgenommen, der Gesamteindruck stimmig, aber verbesserungswürdig gewesen. Nach seiner Darstellung war den Mitarbeitern des Jugendamts die Drogenvergangenheit der Pflegeeltern nicht bekannt. "Mir wurde das nie, nie gesagt", sagte auch die Frau, die die Pflegeeltern seit 2008 betreut hatte.

Laut Staatsanwaltschaft war das Jugendamt Hinweisen von Chantals Verwandten, die Angeklagten würden Drogen oder die Ersatzdroge Methadon konsumieren, nicht nachgegangen. Die Zeugin sagte aus, sie hätte die Hinweise als "Verleumdungen" abgetan. Bereits 1990 war der Angeklagten die Obhut für eine leibliche Tochter entzogen worden. Eine weitere Mitarbeiterin des Jugendamtes, die ebenfalls am Montag als ehemaliger Vormund Chantals befragt werden sollte, verweigerte die Aussage.

Gerichtsmediziner belastet Pflegevater

Nach Ansicht eines Rechtsmediziners hätte Chantal bei rechtzeitiger Behandlung noch gute Überlebenschancen gehabt. Der Anklage zufolge ließ der Pflegevater die Elfjährige am 16. Januar 2012 alleine in der Wohnung zurück, obwohl Chantal nicht mehr ansprechbar war. Das Kind hätte "mit Sicherheit" überlebt, wenn der Pflegevater morgens um sechs Uhr, als er versucht haben soll, sie zu wecken, den Arzt gerufen hätte, sagte Rechtsmediziner Klaus Püschel am Montag vor Gericht.

"Ich habe keine Zweifel, dass das Kind auch um elf Uhr noch überlebt hätte." Zu diesem Zeitpunkt will der Vater zur Arbeit aufgebrochen sein. Chantal, die bereits im Drogenkoma lag, hätte gerettet werden können - und zwar ohne bleibende Schäden davonzutragen, so der Rechtsmediziner. Am Nachmittag war Chantal dann an einer Überdosis Methadon gestorben. Hätten die Pflegeeltern den Notarzt rechtzeitig darüber unterrichtet, dass sich Methadon in der Wohnung befindet, hätte Chantals Überdosis nicht unbedingt tödliche Folgen haben müssen, sagte Püschel. "Das richtige Gegenmittel wirkt in der Regel sehr schnell, fast wie ein Wunder."

Die Pflegeeltern hätten aber erst neun Tage nach dem Tod des Mädchens die Behörden über ihre Drogenvergangenheit informiert, sagte eine Ermittlerin der Mordkommission am Montag.

Leiblicher Vater soll aussagen

Die Staatsanwaltschaft möchte nun den leiblichen Vater Chantals als Zeugen vorladen. Die Pflegefamilie beschuldigt ihn, dass das Mädchen das Methadon in seiner Wohnung gefunden haben soll. Beamte hatten damals auch die Wohnung des leiblichen Vaters durchsucht. "Methadon ist dort in keinster Weise gefunden worden", sagte die ermittelnde Polizistin.

Der Vater wiederum beschuldigt die Pflegeeltern, Chantal schlecht behandelt zu haben. Außerdem habe "ganz Wilhelmsburg" gewusst, dass die beiden drogensüchtig seien. Wochen vor ihrem Tod hat die elfjährige Chantal aus Hamburg-Wilhelmsburg versucht, ihre Pflegefamilie zu verlassen. "Bitte geh zum Jugendamt und hole mich aus dieser schrecklichen Familie", zitierte Staatsanwalt Florian Kirstein aus einem Brief von Chantal an ihren leiblichen Vater.

Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes habe mit dem Kind über das Schreiben gesprochen, sagte dazu die Betreuerin der Eltern. Chantal soll gesagt haben, dass sie bei ihrem ebenfalls drogenabhängigen Vater leben wolle. Den Darstellungen der Zeugin zufolge wurden die Aussagen im Brief nicht weiter untersucht. Die Jugendamts-Mitarbeiterin sah das Wohl des Kindes in der Pflegefamilie grundsätzlich nicht als gefährdet an.

Mit Material von dpa.

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