Mutmaßliche Attentäter von Boston:Amerika fahndet nach Antworten

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Der Flüchtige ist gefasst, die Suche nach Motiven fängt erst an: Als "ganz normalen Großstadtjungen" beschreiben Freunde und Verwandte Dschochar Zarnajew, den 19-jährigen mutmaßlichen Attentäter von Boston. Wie wurde der scheinbar so normale Junge zum Terroristen? Orientierte er sich an seinem Bruder Tamerlan, den das FBI schon 2011 im Visier hatte?

Von Lena Jakat

Boston im Freudentaumel. Die Ostküstenmetropole hat gesiegt, das signalisieren die Bilder feiernder Menschen, stellvertretend für die Vereinigten Staaten. Gesiegt über die Angst vor dem Terror. Gesiegt über das drohende Trauma. Gesiegt über einen 19-jährigen Jungen und seinen Bruder.

Wenn das erste Triumphgeheul verklungen ist, werden die Fragen lauter werden. Die Fragen danach, was Dschochar Zarnajew, diesen freundlich aussehenden Jungen, zum Attentäter gemacht hat. Die Antworten, die Amerika braucht, um diesen Angriff auf sein Selbstverständnis zu verarbeiten, sind - wenn es sie überhaupt gibt - nicht einfach. Dschochar Zarnajew war kein isolierter Einzelgänger, ohne Freunde und Identität, der sich selbst radikalisierte. Nach allem, was in den Stunden nach seiner Festnahme in Watertown bekannt ist (siehe etwa diese Datensammlung auf quartz.com), war er ein "ganz normaler Großstadtjunge".

Auf den ersten Fahndungsbildern, die Dschochar Zarnajew im Porträt zeigen - es ist wohl ein ältere Aufnahme - sieht er aus wie ein kleiner Junge. Ein hübscher Junge, mit wilden Locken und großen Augen. Ein normaler Junge, der sich in den Tagen nach den Anschlägen nicht versteckte. Am Abend der Anschläge vom Montag setzte er von seinem Twitter-Account ( den Freunde Dschochars ebenso wie die Fachleute vom US-Magazin Gawker verifiziert haben) eine Kurznachricht ab: "Da ist keine Liebe im Herzen der Stadt, passt auf euch auf, Leute."

Am Dienstagabend soll er gemeinsam mit Freunden vom Uni-Fußball auf einer Party gewesen sein. Das sagte eine angebliche Kommilitonin dem Boston Globe. Den Mittwoch verbrachte er wie viele der anderen, etwa 9000 Studenten der University of Massachusetts Dartmouth, auf dem Campus der Universität. Er ging ins Fitnessstudio, übernachtete in seinem Zimmer im Studentenwohnheim Pine Dale Hall. Am Abend darauf überfiel er den Mini-Markt auf dem Campus der Universität. Die Jagd begann.

Zarnajew studierte Medizin im zweiten Studienjahr an der örtlichen Uni. Sie liegt um die Ecke der Rindge-and-Latin-Highschool, die er 2011 abgeschlossen hatte. Freunde und Bekannte, die sich in den US-Medien zu Wort melden oder vor die Mikrofone gezerrt werden, sind fassungslos, dass Dschochar an dem Attentat auf den Boston-Marathon beteiligt gewesen sein soll. "Er ist mit mir und meinen Freunden rumgehangen", sagt Pamala Rolon, eine Nachbarin aus dem Studentenwohneheim. "Ich stehe unter Schock." Als das FBI am Donnerstag die Fahndungsbilder veröffentlichte, habe sie mit Freunden ferngesehen. "Wir haben noch Witze gemacht, so nach dem Motto: Das könnte Dschochar sein. Aber dann dachten wir, dass kann einfach nicht sein. Dschochar? Nie und nimmer."

"Hübscher Junge"

"Da war nichts in seinem Charakter, in seiner Art, in seinem Umgang, das angedeutet hätte, dass er auch nur annähernd zu so etwas in der Lage wäre, wie das, was ihm jetzt vorgeworfen wird", sagt sein früherer Lehrer Larry Aaronson dem Sender CNN. "Er war so dankbar hier zu sein, an dieser Schule zu sein. Er war mitfühlend, er war rücksichtsvoll, er war jovial." Während des Interviews stockt Aaronson immer wieder, der Schock in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Auch aus den Twitterbotschaften von Robin Young spricht Fassungslosigkeit. Die Radiomoderatorin aus Boston ist die Tante eines Freundes von Dschochar. Sie twittert ein Bild der beiden von der Abschlussfeier der Highschool. "Er kam zu einer Party, die wir gaben. Hübscher Junge."

Selbst Dschochars engste Verwandte - von den cholerischen Aussagen des Onkels Ruslan Tsarni einmal abgesehen - schienen nichts von dem aggressiven Potential geahnt zu haben, das offenbar in dem 19-Jährigen schlummerte. Der Vater Anzor Zarnajew sagt in einem ersten Anruf aus dem fernen Dagestan, Dschochar sei "wie ein Engel" gewesen, die Schwester - die über die Brüder sagt: "Sie waren tolle Menschen, ich hätte das nie erwartet" - spricht von Dschochar als "großartiges Kind." Der Onkel Alvi Zarnajew sagt: "Ich kann nicht glauben, dass das passiert ist. Ich kann das nicht glauben, das ist unmöglich."

Doch wie passen all diese Schilderungen über Dschochar mit der tödlichen Tat vom Montag zusammen, die so eiskalt, so detailliert geplant schien, dass die meisten Beobachter sie für das Werk einer etablierten Terrororganisation hielten?

Die Person, die diese Lücke wohl am besten schließen könnte, ist tot. Tamerlan Zarnajew, Dschochars sieben Jahre älterer Bruder, starb in der Nacht zum Freitag. Er erlag laut Aussage des Krankenhauses "zahlreichen Schussverletzungen", die er sich während der Verfolgungsjagd im Bostoner Vorort Watertown zugezogen hatte.

Zwar kann auch Tamerlans Familie seine mutmaßliche Tatbeteiligung nicht fassen. Seine Schwiegermutter überreichte Reportern, die ihr Haus in North Kingstown belagerten, eine Notiz, die aussieht, wie mit Schreibmaschine geschrieben. "Unsere Tochter hat heute ihren Mann verloren, den Vater ihres Kindes", heißt es darin. "Wir können nicht einmal anfangen, zu verstehen, wie sich diese schreckliche Tragödie ereignet hat. Nach dem Horror von Patriots' Day wissen wir nun, dass wir Tamerlan Zarnajew nie wirklich gekannt haben. Das Wissen um den Horror, den er angerichtet hat, macht unsere Seelen krank."

Dschochar Zarnajew in Boston gestellt
:Showdown in der Franklin Street

Zwei Stunden dauerte die Belagerung - dann hatte die Polizei ihn gefasst. Szenen der Festnahme von Dschochar Zarnajew, 19, den zweiten Verdächtigen des Anschlags auf den Boston-Marathon.

Doch trotz dieser Fassungslosigkeit gibt es bei Tamerlan mehrere Hinweise auf mögliche Hintergründe des Attentats. Wenn schon nicht auf ein Motiv, so doch auf Unzufriedenheit, auf Frustration. Zu den am meisten verbreiteten Zitaten des 26-Jährigen gehört der Satz: "Ich habe keinen einzigen amerikanischen Freund. Ich verstehe sie nicht." Wie vieles von dem, was bislang über den Mann, der wohl in Kirgisistan geboren wurde, sich offenbar aber als Tschetschene fühlte, bekannt ist, stammt dieser Satz aus einer Fotoserie. "Will Box for Passport" porträtiert Tamerlan, einen talentierten Boxer mit Hoffnung auf das Olympische Team der USA. Anders als sein jüngerer Bruder, der 2012 eingebürgert wurde, hatte er nur eine Green Card, eine Aufenthaltserlaubnis für die Vereinigten Staaten. Aufgenommen hat die Bilder ein Fotografen namens Johannes Hirn. Reste davon lassen sich im Netz noch finden, doch Hirn hat das Essay von seinen Webseiten genommen. Er will mit einem der schwersten Attentate auf die USA seit dem 11. September 2001 wohl nichts zu tun haben.

Tamerlan passt weitaus besser in das Schwarz-Weiß-Bild eines home-grown terrorist, der sich selbst radikalisierte. Das scheinen zumindest die Spuren zu zeigen, die er im Netz hinterlassen hat - ein Youtube-Account zum Beispiel, oder eine Amazon-Wunschliste, die ihm angeblich gehören sollen. Zudem geriet Tamerlan 2011 schon einmal ins Fadenkreuz des FBI. Eine ausländische Regierung hatte um Zarnajews FBI-Akte gebeten - weil er radikaler Islamist sei und plane, sich nicht näher genannten "Untergrundgruppen" anschließen zu wollen. Die Ermittlungen der US-Behörde blieben aber ohne Ergebnis.

Die Fragmente, die bislang aus dem Leben der Brüder bekannt sind, könnten darauf hindeuten, dass Tamerlan möglicherweise die treibende Kraft hinter dem Anschlag war. Der ältere, unglückliche, radikale Bruder, durch den der sieben Jahre jüngere in einen Terroranschlag schlittert?

"Ich wünschte, ich könnte sagen, er war ein schlechter Kerl", sagt Dschochars Freund Torrie Martinez dem Sender CNN. "Aber er war ein guter Kerl." Martinez trainierte gemeinsam mit Dschochar im Ringer-Team. "Er war schmächtig, aber er hat sich für seine Gewichtsklasse ganz gut angestellt", sagt Martinez. Ein anderer Student aus dem Ringer-Team der Highschool sagt der New York Times, er glaube, dass Dschochars Interesse für raue Sportarten von dem Bemühen komme, seinem Bruder nachzueifern. "Er übt diese brutalen Sportarten aus, weil sein Bruder ein Boxer ist", sagt Peter Tean. "Er liebt seinen Bruder wirklich, er schaut zu ihm auf." Der Vater der Brüder sagt am Telefon, Tamerlan habe seinen kleinen Bruder mit zu den Freitagsgebeten genommen. "Selbstverständlich hat Dschochar auf Tamerlan gehört", sagt Anzor Zarnajew . "Er hat auch auf uns gehört. Von Kindheit an war das so." Doch er habe immer seinen eigenen Kopf gehabt, sagt der Vater. "Er ist ein sehr begabter Mensch."

Auch wenn die Frage, was zwei Brüder, den schlauen, vorbildlich integrierten, und den unglücklicheren, wütenderen Boxer, zu Attentätern machte, nie völlig geklärt werden kann: Einer der beiden, der Antworten geben könnte, möglicherweise die genaueren Antworten, ist tot. Doch der andere lebt. Er wird sprechen können. Und wenn er es tut, wird Amerika Antworten bekommen. Auch wenn diese das Begreifen womöglich nicht einfacher machen.

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