Jedes Jahr: Plötzlich Winter:Frost und Frust

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Darf der das, der Winter? Merkwürdigerweise haben viele Menschen vergessen, dass Eis und Schnee im Dezember normal sein sollten: Warum der Winter so heftige Reaktionen auslöst.

Wolfgang Roth

Ach, wie war das schön, als die Winter noch richtige Winter waren! Wer kennt sie nicht, all die Erzählungen aus der Kindheit, die Erinnerung an meterhohe Schneeberge, an die klirrende Kälte, die Nasenflügel zusammenzog und riesige Eiszapfen formte? Wenn es im Dezember auf die Festtage zugeht, verstärkt sich die Sehnsucht nach dem Schnee. Schon mindestens eine Woche im Voraus müssen die Meteorologen ihre Prognosen abgeben, müssen sagen, ob es nicht wenigstens eine klitzekleine Hoffnung gibt auf weiße Weihnacht. Wenn er aber fällt? Dann ist das Wehklagen groß, dann herrscht ein einziges Chaos, dann ist Matthäi am Letzten.

Tückisch, so ein Wintereinbruch. Und dann noch der Schneematsch und der Schrecken aller Autofahrer, das Blitzeis - rette sich, wer kann! Merkwürdigerweise haben viele Menschen vergessen, dass so etwas im Winter ganz normal sein sollte. (Foto: Foto: dpa)

Großes Paradoxon der Zivilisation: So, wie ihn Matthias Claudius beschrieb, soll der Winter sein: "kernfest und auf die Dauer", dass "Stein und Bein vor Frost zerbricht". Einerseits. Andererseits aber stellt man fest, dass der Winter mittlerweile auch ein Störenfried ist, dass er nervt, den verdienten Urlaub gefährdet, ja: im schlimmsten Fall sogar Leib und Leben in Gefahr bringt.

Tausende Leute sitzen in den Flughäfen fest, auf den Straßen ereignen sich Tausende Unfälle, im ganzen Bundesgebiet fallen Züge aus, weil Signalanlagen und Weichen versagen. Darf der das, der Winter? Kann er sich nicht auf die Skigebiete beschränken, auf die Parks, die Gärten und Rodelhügel?

Stattdessen: Wintereinbruch. Es ist ein martialisches Wort, es klingt, als ob Heuschreckenschwärme einfallen würden. Nüchtern betrachtet, kann da nichts hereinbrechen, weil längst Winter ist. Nüchtern betrachtet, schneit es im Dezember häufiger als im Juli. "Blitzeis" ist auch so ein Wort. Ein Blitzschlag trifft den Ungeschützten so schnell und überraschend, dass er sich nicht retten kann. Die überfrierende Nässe aber hat der Wetterbericht angekündigt, man nimmt sie wahr, wenn man den ersten Schritt aus dem Haus macht. Wenn Blitzeis die Straßen überzieht, sind Autos durch die Bank untaugliche Fortbewegungsmittel, sie sind dafür nicht gebaut. Autos fahren aber trotzdem, weil ihre Besitzer diesen Weg schon immer im Auto bewältigt haben. Soll man etwa eine Stunde früher aufstehen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren?

Viel Schnee ist nicht gefallen, sibirische Kältegrade wurden nicht erreicht. Die Mitteleuropäer sind verschont von verheerenden Erdbeben, von Vulkanausbrüchen und Taifunen. Winterstürme, wie sie die Nordamerikaner regelmäßig erleben, Eispanzer, die über viele Tage hinweg alles bedecken, sind hierzulande unbekannt. Aber es reicht schon ohne diese Fährnisse, denn die Mobilität hat einen so hohen Grad erreicht, dass sie keine Störung duldet. Der Winter ist in seinen völlig normalen, unregelmäßig auftretenden Erscheinungsformen schlicht nicht mehr vorgesehen. Die komplexen, dichtvertakteten, auf hohe Geschwindigkeiten getrimmten Verkehrssysteme sind für ihn nicht ausgelegt.

Was für Autos auf Blitzeis zutrifft, gilt analog für die Start- und Landbahnen der Flugzeuge: Sie müssen schneefrei sein, aber das Wetter hält sich nicht an Reisepläne; wo gerade geräumt wurde, breitet sich schnell wieder ein weißer Teppich aus. Wer hätte nicht Mitleid mit denen, die auf Feldbetten nächtigen und ihren Urlaub verkürzen müssen? Allerdings kann sich niemand, der um diese Jahreszeit ein Ticket bucht, darauf verlassen, dass ihm Wind und Wetter gewogen sind. Die meisten tun es trotzdem, auch deshalb, weil sie in dem Irrglauben leben, der technische Fortschritt sei der Natur immer ein Stück voraus. Die aber hat ihre eigenen Gesetze und lässt sich noch nicht einmal von Aufsichtsräten beeinflussen, die den nötigen Durchblick haben.

Schneeflocken sind federleicht, können aber Sand im Getriebe der Wohlstandsgesellschaft sein. Sie zeigen für einen Moment, dass mit dem Grad der Perfektion, mit dem eine Gesellschaft ihr Leben organisiert, auch ihre Verwundbarkeit steigt. Die Deutschen haben wenig Erfahrung mit Stromausfällen. Aus diesem Grund vergegenwärtigen sich die wenigsten, welche existentiellen Folgen es hätte, wenn diese Energiequelle für ein paar Tage ausfallen würde. Das Chaos, das dann entstünde, kann kein Winter anrichten, selbst wenn er meterhohe Schneeberge auftürmte und Stein und Bein vor Frost zerbrächen.

In ein paar Wochen wird es viel zu warm für die Jahreszeit sein. Das wird ein großes Wehklagen geben, weil die Winter auch nicht mehr das sind, was sie einmal waren.

© SZ vom 24.12.2009/segi - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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