Istanbul:Und wieder heißt es: aus Mangel an Beweisen

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Erschossen vom eigenen Bruder: Hatun Sürücü wurde am 7. Februar 2005 in Berlin getötet. (Foto: Lukas Schulze/dpa)
  • In Istanbul sind die beiden älteren Brüder von Hatun Sürücü freigesprochen worden.
  • Ihnen war vorgeworfen worden, ihren jüngeren Bruder Ayhan angestiftet haben, die Schwester Hatun zu töten.
  • Ayhan Sürücü hatte im Februar 2005 seine Schwester in Berlin erschossen und die alleinige Schuld für den Mord auf sich genommen.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Sie sind Brüder. Sie haben so oft zusammengehalten, auch jetzt noch in diesem Prozess. Aber heute steht Mutlu Sürücü ganz alleine vor dem Richter. Sein mitangeklagter Bruder Alpaslan hat sich entschuldigen lassen. Die Tochter sei krank. Beide stehen wegen Beihilfe zum Mord an ihrer Schwester vor Gericht. Der Richter fragt Mutlu Sürücü, ob er noch etwas zu sagen habe. Er öffnet die Arme: "Ich wünsche mir ein gerechtes, unabhängiges Urteil." Dann setzt er sich.

In der Türkei ist dieser Prozess, der an diesem Dienstag zu Ende geht, nur einer von vielen. Türkische Journalisten sind kaum gekommen. In Deutschland aber ist er so etwas wie eine offene Wunde. Die beiden Männer, 36 und 38 Jahre alt, sollen ihren jüngeren Bruder Ayhan angestiftet haben, die Schwester Hatun zu töten. Es war eine Nacht im Februar 2005, mitten in Berlin. "Bereust du deine Sünden?", fragte Ayhan seine 23-jährige Schwester. Dann schoss er ihr in den Kopf. Sie hatte ihr Leben geführt, wie sie es wollte: eigener Job, eigene Wohnung, ein Freund. Auf einmal waren sogenannte Ehrenmorde das große Thema in der Debatte um Integration. Was war da los in den Familien? Was ging da schief?

Verurteilt wurde nur der damals 18-jährige Ayhan. Er saß eine Jugendstrafe von mehr als neun Jahren ab. Dann wurde er abgeschoben und lebt heute in Istanbul.

Hatun Sürücüs Bruder ist wütend - trotz Freispruch

Die Brüder wurden beim Prozess in Berlin freigesprochen. 2007 hatte der Bundesgerichtshof diese Urteile gegen die beiden Älteren jedoch aufgehoben. Der Prozess sollte neu aufgerollt werden. Doch die Brüder hatten sich in die Türkei abgesetzt. 2015, zehn Jahre nach der Tat, begann in Istanbul der Prozess gegen Mutlu und Alpaslan Sürücü. Er endete an diesem Dienstag wie auch das Verfahren in Berlin: mit Freisprüchen für die beiden Männer.

Und wieder heißt es: aus Mangel an Beweisen. Es wäre verständlich, wenn sich der Angeklagte freuen würde. Aber er ist wütend. Er schimpft auf die deutschen Journalisten, aber seine Worte sind kaum zu verstehen. Die Justizbeamten zerren ihn aus dem Saal. Mutlu Sürücü hatte dem Richter zuvor gesagt, dass er in der Türkei nur deshalb noch einmal vor Gericht stehe, weil die deutsche Presse so einen Druck ausgeübt habe, es gar nicht um Gerechtigkeit gehe, sondern um Politik. In diese Richtung argumentiert auch die Anwältin von Alpaslan. In der deutschen Öffentlichkeit sei das Bild einer streng religiösen Familie gezeichnet worden, dabei führe ihr Mandant eine "moderne Ehe".

So ging das auch schon in den vergangenen Prozesstagen. Die Zeugen, die in Istanbul zu Wort kamen, zeichneten das Bild netter Brüder. Nur Ayhan, der Schütze, habe einen Fehler gemacht. Sagen seine Brüder. Es habe nie einen gemeinsamen Plan gegeben, Hatun Sürücü zu ermorden. Er habe seine Schwester auch nicht umgebracht, "weil sie ein anderes Leben führte", wie er aussagte. Die Schüsse habe er abgefeuert, weil er sich vor lauter Rage vergessen habe. Die Waffe? Hätte er von einem Arbeitskollegen bekommen. Das ist seine Version.

Neue belastende Beweise gab es im Istanbuler Prozess nicht

Im Kern baute der Prozess in der Türkei auf der Aussage einer Zeugin auf, die in Istanbul gar nicht noch einmal gehört werden konnte: Melek, die frühere Freundin des Schützen. Sie war die Kronzeugin und lebt seither im Zeugenschutzprogramm. Sie hatte im Berliner Prozess nicht nur Ayhan belastet, sondern auch die Brüder. Zwei Wochen vor der Tat soll Ayhan ihr von seinem Plan erzählt haben, seine Schwester zu töten. Was seine Brüder vor Jahren hätten tun sollen, würde er nun erledigen. Er und seine Brüder Mutlu und Alpaslan wären sich einig. Sie wüssten nur noch nicht, wann.

So gut wie alles, was die Anklage gegen die Brüder des Schützen anführt, basiert auf den alten Aussagen der Frau, die wiedergab, was Ayhan ihr erzählt haben soll. Neue belastende Beweise hat der Prozess in Istanbul dagegen nicht zu Tage gefördert. Es hätten "nicht genügend eindeutige und glaubhafte, klare Beweise gefunden werden können", hieß es in der Begründung des Gerichts. Dass Mutlu Sürücü die Waffe besorgt haben soll, dass Alpaslan in der Nähe des Tatortes Schmiere gestanden habe - alles früher schon bekannt. An mehreren Prozesstagen ging es darum, die frühere Freundin Melek in der Türkei zu verhören. Aber die türkische Justiz kam nicht an die Frau heran, die unter neuen Namen ein neues Leben angefangen hat.

Im Frühjahr gab das Gericht seine Bemühungen auf. In der Anklageschrift heißt es, dass ihre Aussagen im Fall Ayhan zur Verurteilung beigetragen hätten, sie sollten auch im Falle der Brüder als glaubwürdig akzeptiert werden. Deshalb forderte die Staatsanwaltschaft wohl auch Haftstrafen von bis zu 20 Jahren. Ein bedrückender, oft zäher Prozess ist zu Ende gegangen. Eine Familie ist zerbrochen. Die Schwester ist tot. Am Tatort in Berlin steht ein Gedenkstein. "Weil sie sich Zwang und Unterdrückung ihrer Familie nicht unterwarf", steht darauf. Juristisch ist der Fall beendet.

© SZ vom 31.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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