Geburtenrate:Warum in Israel so viele Kinder geboren werden

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In bunten Kostümen feiern Kinder in Jerusalem das Purimfest, das an die Rettung der persischen Juden erinnert. (Foto: imago/ZUMA Press)

In Krisenzeiten bekommen die Menschen meist weniger Kinder. Nur in Israel gibt es trotz aller Bedrohungen einen anhaltenden Baby-Boom. Ein Phänomen, für das es viele Gründe gibt.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Wer die Statistik mit Stimmen füllen will, braucht nur auf den Spielplatz zu gehen. Am späten Nachmittag in Tel Aviv zum Beispiel, wenn die berufstätigen Eltern ihre Kinder aus der Betreuung abgeholt haben und auf dem Heimweg kurz Station machen bei den knallbunten Rutschen, Schaukeln und Klettergerüsten. Es ist ein solches Gewusel und Geschrei, ein Toben und ein Lachen, dass jedem schnell klar wird, was die jüngste Statistik der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, im wahren Leben bedeutet: Israel ist enorm reich gesegnet mit Nachwuchs. Mehr noch: Hier werden mehr Kinder geboren als in jedem anderen Staat der westlichen Welt.

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Eine israelische Frau bekommt im Durchschnitt 3,1 Kinder

Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet dieses stets krisen- und oft kriegsgeplagte Land an der Spitze der Statistik steht. Eine israelische Frau bekommt im Durchschnitt 3,1 Kinder, der Mittelwert in den Industriestaaten liegt bei 1,7, in Deutschland bei 1,5 Kindern. Die hohe israelische Geburtenrate ist dabei nur zum Teil auf zwei besonders fruchtbare Bevölkerungsgruppen zurückzuführen, die ultraorthodoxen Juden und die israelischen Araber, deren Familien traditionell sehr kinderreich sind. Auch jenseits dieser beiden Minderheiten sind drei oder vier Kinder für viele israelische Paare die pure Selbstverständlichkeit.

Die Suche nach den Ursachen für den Kinderreichtum führt in ein Gewirr aus gesellschaftlichen, traditionellen, sozialen, politischen und ganz vielen anderen Gründen - und weil die Sache so vielschichtig ist, spricht man darüber wohl am besten mit einer Psychologin. "Kinder bedeuten Leben", sagt Tali Gogol-Ostrowsky als Erstes. "In Europa gab es einen Baby-Boom nach dem letzten Weltkrieg. Wir haben einen ständigen Baby-Boom." Kinder seien "der Versuch, eine Brücke in die Zukunft zu bauen, in eine bessere Zukunft." In einem Einwanderungsland wie Israel sei das besonders wichtig, sagt die Familientherapeutin: "Fast jeder, der hier lebt, ist irgendwie entwurzelt. Was dich in diesem Land normal macht, ist, Kinder zu haben. Familie schafft Zugehörigkeit."

Regenbogenfamilien sind voll akzeptiert - "Hauptsache Enkelkinder"

Wie groß der Familiensinn ist, lässt sich an jedem Freitagabend beobachten: beim Sabbat-Dinner. Das ist der wöchentliche Treffpunkt für Großeltern, Eltern und Kinder, ein Pflichttermin selbst für die größer gewordenen Kinder, die anschließend noch in den Clubs und Kneipen versacken. Hier wird der Familienzusammenhalt gepflegt, mittlerweile ganz entspannt jenseits alter Konventionen. Denn die Familienmodelle sind in Israel längst weit bunter als in den meisten anderen Ländern. Gesellschaftlich voll akzeptiert sind auch schwule oder lesbische Paare mit Kindern. "Alles ist okay", sagt Tali Gogol-Ostrowsky, "Hauptsache, du hast Enkelkinder."

Die Familien helfen überdies so gut es geht bei der Betreuung. Ein Karriererisiko für Frauen sind Kinder in Israel auch deshalb eher nicht. Ein Armutsrisiko sind sie allerdings schon. Die privat zu zahlende Betreuung für Kinder unter drei Jahren verschlingt leicht ein Halbtagsgehalt pro Kind. Die Familienförderung ist deutlich geringer als in Deutschland oder anderen westlichen Staaten. Statt Elternzeit gibt es in Israel lediglich 14 Wochen Gehaltsfortzahlung rund um die Geburt, und dies nur für Mütter. Das Kindergeld ist vergleichsweise gering, 150 Schekel (37 Euro) fürs erste und etwas mehr für jedes folgende Kind. All dies führt dazu, dass Israel in der OECD-Statistik nicht nur bei den Kinderzahlen oben steht, sondern auch bei der Kinderarmut: 21,7 Prozent der Israelis leben unterhalb der Armutsgrenze, jedes dritte Kind ist davon betroffen.

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Das alte Schlagwort vom "Krieg der Gebärmütter"

Doch auch wenn es sich der Staat leistet, die Familienförderung knapp zu halten, und dabei Armut in Kauf nimmt, so ist der Kindersegen doch politisch gewollt. Man sieht das jedes Jahr, wenn zum jüdischen Neujahrsfest die Bevölkerungszahlen in einem Akt freudiger Selbstvergewisserung bekannt gemacht werden. Stets gehen die Werte steil nach oben, bedingt durch Einwanderung und Geburtenüberschuss. Seit der Staatsgründung 1948 hat sich die Einwohnerzahl mehr als verzehnfacht: von 800 000 auf mehr als 8,5 Millionen Menschen. Die Regierung verkündet das mit Stolz, auch wenn Professoren es vereinzelt wagen, auf die Gefahr einer Übervölkerung hinzuweisen.

Im Hintergrund steht dabei immer noch das alte Schlagwort vom "Krieg der Gebärmütter". Dabei geht es um die Austragung des ewigen Nahostkonflikts zwischen Israelis und Palästinensern mit den Waffen der Demografie. Lange Zeit galt das als bedrohlich für Israel. Noch vor rund 20 Jahren betrug die Geburtenrate im palästinensischen Westjordanland 5,6 und im Gazastreifen 6,9 Kinder pro Frau. In Israel lag sie bei 2,6. Doch während sie in Israel inzwischen deutlich angestiegen ist, fiel die Zahl im Westjordanland und in Gaza auf 4,5. Angesichts dieser Entwicklung gab Israels Verteidigungsminister Avigdor Lieberman im Sommer Entwarnung: "Es wird keine demografische Zeitbombe geben."

Israelis lieben Kinder eben über alles

Dass in Israel die Geburtenzahlen eine solch starke Beachtung finden, hat aber noch einen weiteren, tieferliegenden Grund. Als vor nicht allzu langer Zeit die jüdische Bevölkerung die Sechs-Millionen-Marke überschritten hatte, jene Zahl der im Holocaust getöteten Juden also, da war dies ein Thema breiter Reflexion in der Öffentlichkeit und in den Medien. Sechs Millionen Ermordeten standen nun in Israel sechs Millionen Lebende gegenüber. "Jedes Kind ist immer auch ein Verlust-Ausgleich", sagt die Psychologin Gogol-Ostrowsky. "Früher haben viele ihren Nachwuchs auch ganz bewusst nach Holocaust-Opfern benannt."

Heute ist der häufigste Vorname bei Neugeborenen in Israel zwar "Mohammed" - als erste Wahl der arabischen Minderheit, die 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Doch auf dem Spielplatz in Tel Aviv, mitten im Getümmel, dominieren die Uris und Daniels, die Tamars, Avigails und Sarahs. Sie werden geherzt und gehätschelt, und keiner kommt so schnell auf die Idee, ihnen Schranken zu setzen.

So ist die Erklärung für die hohen Geburtenzahlen vielleicht auch ganz einfach: Die Israelis lieben Kinder eben über alles. "Für uns sind sie keine Könige", sagt Gogol-Ostrowsky lächelnd, "sie sind wie Götter."

© SZ vom 05.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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