Bluttat von Orlando:Orlando, Stadt der Verzweiflung

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Die Bluttat in einem Gay-Club übertrifft alle Befürchtungen und überfordert die Stadt. Viele Menschen müssen die Nacht ohne Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen verbringen.

Von Johannes Kuhn, Orlando

Es ist bereits nach Mitternacht, als vor den Absperrungen rund um den Gay-Club Pulse in Orlando endlich Ruhe einkehrt. Die Trauernden, Neugierigen und TV-Teams nach Hause gegangen sind. Nur die lautlos blinkenden Polizeilichter erinnern daran, dass hier zwischen Industriesiedlung und den Türmen von Downtown der Tatort des größten Schusswaffen-Massakers in der jüngeren Geschichte der USA liegt. 50 Menschen haben in dem unauffälligen schwarzen Bau ihr Leben verloren, 53 weitere wurden teils schwer verletzt.

Noch ist unklar, warum sich der 29-jährige Omar Mateen den kleinen Club aussuchte, in dem sich wie jeden Samstag die LGBT-Gemeinde von Orlando zur lateinamerikanischen Nacht traf. Warum er sich mit dem Sturmgewehr vom Typ AR-15 und einer Pistole bewaffnete und in die unbeschwert feiernden Menschen schoss. In dieser Nacht gibt es mehr Fragen als Antworten.

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Mehr als 50 Menschen hat der US-Amerikaner Omar Mateen in einem Gay-Club in Florida erschossen. Die Waffen für die Bluttat hat er legal gekauft.

In einer Seniorenresidenz in der Nähe des Krankenhauses, in dem die meisten Verletzten versorgt werden, bangen jene Angehörigen, die noch nicht wissen, was genau mit ihren Familienmitgliedern passiert ist. Sind sie tot? Verletzt? Immer noch vermisst? So unübersichtlich war die Lage im Nachtklub Pulse, dass die Identifizierung erst spät beginnen konnte.

Am Sonntagnachmittag baten die Offiziellen die ersten Angehörigen zum Gespräch, um ihnen die schlimme Nachricht zu eröffnen. Andere fanden ihre Söhne, Töchter, Schwestern oder Brüder auf der Liste der Verletzten. Verzweiflungsschreie, Aufschluchzen, Nervenzusammenbrüche - die Anwesenden berichten von furchtbaren Szenen. Es werden nicht die letzten sein. An diesem Montag werden den Angehörigen die nächsten Namen eröffnet werden.

Das Ausmaß der Tat ist selbst für hartgesottene Zeitgenossen nur schwer zu begreifen. Auf Facebook sind Videos mit tanzenden Besuchern zu sehen, die einige Zeit vor der tödlichen Attacke gefilmt wurden. Sie sind in ihrer Harmlosigkeit fast so schwer anzusehen wie die SMS von Sterbenden und Verletzten, die ebenfalls im Internet kursieren. Ray Rivera, der DJ des Salsa- und Merengue-Abends, erzählte CNN, dass er zunächst die Musik leiser machen musste, weil er sich nicht sicher war, was das Knallen bedeutete. "Ich sah die Körper auf dem Boden, überall ... es war Chaos, alle wollten raus."

"Der erste Club, der alle willkommen hieß"

Orlando ist eigentlich eine geschäftsmäßig fröhliche Stadt, vielen deutschen Familien-Touristen wegen der Fülle an Freizeitparks rund um Disneyland bekannt. Viele Bewohner hier haben lateinamerikanische Wurzeln, sie stammen aus Puerto Rico, Kuba, Mexiko und anderen mittel- und südamerikanischen Ländern. Die meisten Opfer der Terrornacht von Orlando sind wohl ebenfalls Hispanics.

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Der Täter heißt Omar Mir Seddique Mateen. Inzwischen spricht vieles für ein islamistisches Motiv. Zweimal ermittelte bereits das FBI gegen ihn.

Die Latino-Gäste des Nachtclubs Pulse sind als Homosexuelle oder Transgender somit eine doppelte Minderheit. Der Alltag für schwule oder lesbische Hispanics ist in der Regel in zweifacher Hinsicht nicht einfach: Florida ist jenseits der Metropole Miami und den Großstädten Orlando, Tampa/St. Petersburg und Jacksonville ein häufig konservativer Ort, der modernen Lebensformen nicht gerade wohlwollend gegenübersteht. Dazu kommt die meist geringe Offenheit gegenüber Homosexualität in vielen Latino-Familien.

Die Freiheit, sich in der Öffentlichkeit zu ihrer Homosexualität zu bekennen, war für die jungen Gäste des Pulse sicher nicht selbstverständlich - und genau deshalb liebten sie den Club im Süden des Stadtzentrums. "Das war der erste Club in dem ich je war, der alle willkommen hieß", erzählte Janice Rivera, die mehrere Freunde verlor, dem britischen Guardian. "Alle tanzten miteinander, hetero, bisexuell, alles. Es ist egal, wer du bist, alle lieben dich dort drin." Keiner der Besucher ahnte, dass diese Freiheit sie in den USA ihr Leben kosten kann.

Mina Justice, die Mutter eines der Todesopfer zeigte die herzzerreißenden SMS, die ihr Sohn während des Massakers aus dem Club an sie schrieb. Die erste Nachricht erhielt sie um 2:06 Uhr morgens. Ihr Sohn Eddie schrieb: "Mommy I love you." Dann: "Im Club schießen sie." "Gefangen auf den Toiletten." "Pulse. Downtown. Ruf die Polizei." "Ich werde sterben."

Justice rief den Notruf, eine halbe Stunde später kamen weitere Nachrichten von ihrem Sohn. "Ruf sie an, Mami" und "Er kommt. Ich werde sterben." Als sie zurückfragte, ob er verletzt sei, schrieb er: "Ja, sehr." Seine letzten Nachrichten waren: "Immer noch im Waschraum. Er hat uns. Sie müssen kommen und uns rausholen", "Schnell. Er ist in den Toiletten mit uns" und "Er ist ein Terrorist". Dann riss der Kontakt ab. Mina Justice musste bis zum späten Sonntagabend warten, um die schreckliche Gewissheit zu erhalten, dass ihr Sohn Eddie unter den Getöteten ist. Er wurde 30 Jahre alt.

Bisher sind von offizieller Seite fünfzehn Namen von Todesopfern veröffentlicht worden, sie waren zwischen 20 und 50 Jahre alt. "In den kommenden Tagen werden wir mehr von den 50 Seelen erfahren, vom Leben, das sie gelebt haben, und die Welt, die sie verbesserten", erklärte US-Vizepräsident Joe Biden. Es ist ein frommer Wunsch, denn natürlich wird die Frage, wie eng die Verbindung des Massenmörders Omar Mateen zum "Islamischen Staat" war, das Schicksal der Opfer in der öffentlichen Wahrnehmung zur Seite drängen. Denn natürlich ist die Frage nach den Konsequenzen auch eine politische: Die Demokraten reden von der Verschärfung des Waffenrechts, die Republikaner von der Ausweitung des Kampfes gegen islamistische Terroristen.

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Dem US-Präsidenten ist der Frust darüber anzusehen, dass er immer wieder vergeblich nach einer Verschärfung der Waffengesetze ruft.

Der zweite Terrorakt aus der Mitte der amerikanischen Gesellschaft innerhalb weniger Monate - nach dem Anschlag in San Bernardino im Dezember - ist zu viel, für das Land, aber auch für Orlando. Der Ausnahmezustand macht selbst das Trauern fast unmöglich. Wegen der angespannten Sicherheitslage gibt es zu wenig Polizisten. Die Stadt ruft dazu auf, auf Nachtwachen zum Gedenken verzichten. Stattdessen müssen Sicherheitskräfte das örtliche islamische Zentrum bewachen, nachdem Mitglieder Drohungen erhalten hatten.

Dennoch hatte sich am frühen Abend in der Stadt ein Trauermarsch zusammengefunden, wie an so vielen anderen Orten in den USA. "Trauert um die Toten, kämpft für die Lebenden", riefen die Teilnehmer. Und vor dem Krankenhaus trat Simara, eine Freundin eines Getöteten, vor die Kamera: "Erinnert euch an ihn, weil er ein Mensch war, nicht weil er schwul war. Sondern weil er ein menschliches Wesen war."

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