Arbeiten im deutschen Bergbau nach Soma:"Niemand fährt mit Angst da runter"

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Trauer bei der Beisetzung für einige der Opfer von Soma: Das Unglück hätte aus Sicht von Experten nicht passieren dürfen (Foto: AFP)

Hunderte Bergleute sind beim schwersten Grubenunglück in der Geschichte der Türkei ums Leben gekommen. Metin Aycıl arbeitet seit mehr als 30 Jahren im Bergbau im Ruhrgebiet, er kennt die Arbeitsbedingungen der türkischen Kollegen - das Bergen von Toten gehöre für sie dazu. Er fühlt nun auch mit den Überlebenden.

Von Hanna Voß und Benjamin Romberg

Für Metin Aycıl sind die Bilder aus Soma nur schwer zu ertragen. Bei einem Brand in einem Kohlebergwerk sind dort Hunderte Bergleute verschüttet worden, bislang wurden fast 300 Leichen geborgen. Seit 31 Jahren arbeitet Aycıl im Bergbau im Ruhrgebiet, er ist gebürtiger Türke und als Mitarbeiter bei der Hauptrettungsstelle der Grubenwehr in Herne für die Rettung und Bergung verunglückter Kumpel zuständig.

Als, wie er selbst vermutet, dienstältester Türke der RAG Deutsche Steinkohle (ehemals Ruhrkohle AG) weiß er, wie schlimm die Situation nicht nur für die Angehörigen, sondern vor allem für die geretteten Kumpel und Helfer in der Türkei momentan sein muss. "Das kann man nicht erklären. Allein der Gedanke: Ich habe überlebt und mein Kollege nicht. Das werden die noch Jahre mit sich herumtragen."

Viele der Retter kennt der 47-Jährige persönlich. Mitarbeiter der türkischen Grubenwehr hatten die RAG erst vor kurzem für eine Woche besucht. "Ich möchte gar nicht politisch werden", sagt Aycıl. "Aber als die das hier gesehen haben, war es für sie ein Unterschied wie Tag und Nacht." Angerufen habe er sie noch nicht, aus Respekt. Weil er weiß, dass sie momentan Besseres zu tun haben. "In einer Woche", das hat er sich vorgenommen, "werde ich mich melden."

"Wir riskieren unser Leben"

Bei der Grubenwehr zu arbeiten, macht Aycıl stolz. "Wir riskieren unser Leben, um das von anderen Menschen zu retten." Die Sicherheitsstandards in den deutschen Zechen, glaubt er, seien die besten der Welt. Es gebe Explosionssperrungen, Gasabsaugungen und mehrere unabhängige Kontrollinstanzen.

Frank Otto, Bergbauexperte an der Technischen Fachhochschule Georg Agricola Bochum, teilt diese Einschätzung: "In Deutschland gibt es sehr starke Sicherheitsmaßnahmen und kaum Möglichkeiten für einen Unfall". Zudem arbeiteten hierzulande gar nicht mehr so viele Menschen an einer Stelle. Die Opferzahl in Soma sei vor allem so hoch, weil die ganze Grube betroffen gewesen sei. Durch den Schichtwechsel waren zum Zeitpunkt des Unglücks außerdem mehr Bergleute als sonst auf einmal vor Ort.

Kontrollen gebe es in der Türkei zwar auch, sagt Otto. Allerdings sei es "verwunderlich", dass dort die Regierung zustimmen müsse. "Das ist in Deutschland nicht so", sagt Otto, "sondern wird von den Bergbehörden veranlasst". Die Opposition in der Türkei hatte eine strengere Kontrolle der Mine in Soma wegen immer wieder auftretender Mängel gefordert. Die Regierungspartei AKP hatte dies abgelehnt.

Ein Problem sieht Aycıl auch in der wachsenden Zahl privater Bergwerkbetreiber in der Türkei. "Die versuchen oftmals, Kontrollen zu umgehen, um Geld zu sparen."

"Irgendetwas ist komplett schiefgelaufen"

Besonders wichtig, sagt Aycıl, sei auch der Austausch untereinander. Vor Aufnahme der Arbeit gebe es in seinem Bergwerk immer ein fünfminütiges Sicherheitsgespräch mit wechselnden Themen. Dadurch blieben den Arbeitern auch mögliche Gefahren ständig präsent. Die gebe es natürlich auch in Deutschland noch, ein gewisses Restrisiko lasse sich nicht vollständig beseitigen. Zum Beispiel das einer Explosion oder eines Feuers, wie nun in Soma. Dennoch hätte das Unglück aus Sicht von Experte Otto nicht passieren dürfen: "Dass ein Transformator einen Brand auslöst, kann eigentlich nicht sein. Bevor es gefährlich wird, schaltet sich das Gerät ab. Irgendetwas ist komplett schiefgelaufen."

In Soma hatte ein Fehler in der Elektrizitätsanlage eine Explosion ausgelöst. "Wenn es brennt, ist man da unten eingeschlossen und den Gasen ausgesetzt", sagt Aycıl. "Natürlich hat man vor Augen, dass es dazu kommen kann." Dennoch, so Aycıl, "fährt niemand mit Angst da runter. Sehr wohl aber mit Respekt."

Erst einmal in 31 Jahren, erinnert sich Aycıl, habe ein Kumpel gesagt: "Metin, ich kann nicht mehr." Er selbst habe nie daran gedacht, aufzuhören. Der Bergbau habe auch gute Seiten. "Der Ton unter Tage ist rau, aber kameradschaftlich. Wir Kumpel sind aufeinander angewiesen. Unter Tage haben alle dasselbe Schicksal. Deshalb halten wir zusammen." Die Bilder von Soma, auf denen gerettete Bergleute verzweifelt auf ihre verschütteten Kameraden warten, zeigen das eindrucksvoll.

"Immer wieder begegnet ihnen das Elend"

Erst einen Verletzten habe Aycıl in seiner langjährigen Berufslaufbahn bergen müssen. Für die Grubenwehr in der Türkei dagegen gehöre die Rettung von Verletzten und das Bergen von Toten dazu. "Die stehen unter enormem Stress", sagt Aycıl: "Immer wieder begegnet ihnen das Elend."

Die Chancen, dass noch Überlebende aus der Mine in Soma geborgen werden, stehen offenbar schlecht. Normalerweise gebe es in regelmäßigen Abständen Stationen, an denen frische Luft verfügbar ist, sagt Otto. Diese seien die einzige Möglichkeit für Überlebende. "Ich halte es allerdings für unwahrscheinlich, dass noch Arbeiter gerettet werden können."

"Das ist der Schmerz, den ich als Rettungsfachmann zurzeit empfinde und den auch meine türkischen Kollegen ertragen müssen", sagt Aycıl, der dienstälteste Türke im Ruhrkohlebergbau. "Man kann nur noch zugucken und hoffen."

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