Bergwerksunglück in der Türkei:Schicksal von mindestens 55 Arbeitern ungeklärt

Bergwerksunglück in der Türkei: Rettungskräfte bergen am Mittwoch einen Verletzten aus der Mine in Soma. Für die Eingeschlossenen sinken die Überlebenschancen von Stunde zu Stunde.

Rettungskräfte bergen am Mittwoch einen Verletzten aus der Mine in Soma. Für die Eingeschlossenen sinken die Überlebenschancen von Stunde zu Stunde.

(Foto: AP)

+++ Staatspräsident Gül verspricht schnelle Aufklärung des Grubenunglücks +++ Schicksal von mindestens 55 Arbeitern offen +++ Sicherheit im Bergwerk soll mangelhaft gewesen sein +++ Berater von Erdoğan attackiert einen Mann in Soma +++ Proteste in vielen türkischen Städten +++ Zahl der Toten auf 282 gestiegen +++

Die Entwicklungen im Newsblog

  • Zahl der Toten des Grubenunglücks in Soma steigt auf 282
  • Schicksal von mehr als 55 Arbeitern noch ungeklärt
  • Gewerkschaftschef bei Protesten in Izmir verletzt
  • Berater Erdoğans tritt auf einen Demonstranten ein
  • Video zeigt den Ministerpräsident scheinbar in Handgemenge mit Protestierenden
  • Gewerkschaften rufen zum Streik auf
  • Türkische Gemeinde in Deutschland kritisiert Erdoğan

Zahl der Toten steigt - Schicksal von mindestens 55 Arbeitern ungeklärt: Nach Angaben von Energieminister Taner Yıldız sind nach dem verheerenden Grubenunglück im türkischen Soma vom Dienstag bisher 282 tote Bergleute geborgen worden. 217 Leichen seien bereits an die Angehörigen übergeben worden, schreibt die türkische Zeitung Hürriyet in ihrer englischsprachigen Online-Ausgabe. Nach Angaben der Betreibergesellschaft Soma Holding wurden insgesamt 450 Kumpel lebend gerettet, darunter 80 Verletzte, die noch in Krankenhäusern behandelt würden. Minister Yıldız hatte am Mittwoch gesagt, zum Zeitpunkt der Katastrophe seien 787 Arbeiter in der Zeche gewesen. Somit wäre das Schicksal von 55 Arbeitern ungeklärt. Die Regierung fürchtet, dass die Zahl der Toten weiter steigt. In den vergangenen zwölf Stunden, so Yıldız, seien aus dem Kohlebergwerk Soma keine Kumpel mehr lebend geborgen worden. Das Feuer in den Stollen sei inzwischen gelöscht, berichten türkische TV-Sender. Wie die Zeitung Milliyet mitteilt, werden die Rettungsarbeiten jedoch weiterhin erschwert, weil sich in dem Stollen, wo die Kumpel vermutet werden, Wasser gesammelt hat, das derzeit nicht abgepumpt werden kann.

Was sich unter Tage abgespielt hat: Während des Schichtwechsels löste ein Fehler in der Elektrizitätsanlage eine Explosion aus, die zu einem Brand führte. Viele der Opfer sind erstickt. Wie die englischsprachige Ausgabe der Hürriyet berichtet, soll es in der Unglücksmine nur einen einzigen Schutzraum gegeben haben. Die Website berichtet von dramatischen Szenen, die sich in der Tiefe des Bergwerks zugetragen haben sollen. Nachdem sie merkten, dass sie nicht mehr an der Oberfläche gelangen können, sollen 14 Bergleute sich in einen nur fünf Quadratmeter großen Schutzraum geflüchtet haben. Dort wollten sie einer Kohlenmonoxidvergiftung entgehen, allerdings gab es zu wenig Sauerstoffmasken, so dass die Kumpel sich abwechseln mussten. Rettungskräfte, die bis in die Kammer vorgedrungen sein sollen, hätten dann die Leichen der 14 Männer gefunden. Wie es in dem Bericht heißt, sei der Schutzraum wohl nicht ausreichend abgesichert gewesen - entgegen den Beteuerungen des Grubenbetreibers, der noch vor einem Jahr behauptet hatte, dass es mehrere Schutzräume gebe, in denen die Bergleute im Notfall 20 Tage überleben könnten.

Gewerkschafter bei Protesten verletzt: Die massiven Proteste gegen die Regierung, der eine Mitschuld an dem Unglück vorgeworfen wird, gehen mit einer Demonstration in Izmir weiter. Die Polizei ging mit Tränengas gegen etwa 20 000 Demonstranten in der westtürkischen Stadt vor, wie die Nachrichtenagentur Doğan meldete. Das Video eines Facebook-Users zeigt, wie ein Wasserwerfer gegen die Demonstranten eingesetzt wird. Bei den Zusammenstößen sei der Vorsitzende der Gewerkschaft DISK, Kani Beko, verletzt worden, meldet Doğan. Er werde im Krankenhaus behandelt. Auch in anderen Städten gehen Menschen auf die Straße. Auf Twitter verbreiten sich Bilder aus Istanbul, Diyarbakir, Antalya, Adana und Izmir: Überall sammeln sich die Massen, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Bereits am Mittwoch war es an mehren Orten zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei gekommen.

Erdoğan-Berater tritt auf Demonstrant ein: Die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan steht wegen der mangelhaften Sicherheit in türkischen Minen in der Kritik. Zusätzlich verstärkt wird die Empörung durch ein Foto, das sich schnell über die sozialen Medien verbreitete. Das Bild zeigt, wie einer der Berater des Ministerpräsidenten, Yusuf Yerkel, mit voller Wucht einen am Boden liegenden Mann tritt, bei dem es sich um einen Demonstranten in Soma handeln soll. Das melden die englischsprachige Hürriyet und die türkische Ausgabe der BBC. Der Hürriyet zufolge rechtfertigt Yerkel sein brutales Vorgehen damit, dass der Mann ein militanter Linker sei, der aus einer anderen Stadt nach Soma gekommen sei.

Video zeigt Erdoğan bei seinem Besuch in Soma: Im Netz kursiert ein Video das angeblich zeigen soll, wie Ministerpräsident Erdoğan einen Bewohner der Stadt attackiert. Auch eine regierungskritische Zeitung berichtet darüber. Inzwischen ist es allerdings nicht mehr erreichbar. Auf den Aufnahmen ist im Menschengewusel kaum zu erkennen, wie die Situation wirklich verlaufen ist. Erdoğan zieht sich, von Sicherheitskräften begleitet, in einen Supermarkt zurück, wo er offenbar Schutz vor der Menschenmenge sucht.

Türkische Gemeinde in Deutschland kritisiert Erdoğan: Der stellvertretende Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, missbilligt das Verhalten der Regierung von Ministerpräsident Erdoğan. Er habe, sagte Sofuoglo dem Südwestrundfunk, mit "herzlosen Worten" versucht, die Katastrophe herunterzuspielen. Nach Aussage Erdoğans habe die Regierung alles für die Sicherheit getan - "doch dem ist nicht so". Die Proteste würden nicht aufhören, "solange den Menschen gesagt wird, dass es Gottes Befehl gewesen sei, dass Bergwerksunglücke normal seien und auch in anderen Ländern passierten". Der Koordinationsrat der Muslime (KRM) in Köln hat zum Gebet für die Opfer des Bergwerksunglücks in der Türkei aufgerufen. Die Organisation appellierte an Muslime bundesweit, das Freitagsgebet den Opfern von Soma zu widmen.

Präsident Gül verspricht Aufklärung: Der türkische Staatschef Abdullah Gül hat sich am Bergwerk in Soma ein Bild von der Lage gemacht und im Krankenhaus verletzte Überlebende des Unglücks besucht. Dabei sicherte er eine genaue Aufklärung der Katastrophe zu: "Die Untersuchungen haben schon begonnen. Sie werden mit großer Sorgfalt weitergeführt". Gül sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus. "Es ist ein großer Schmerz, und es ist unser aller Schmerz."

Schlimmstes Grubenunglück in der Geschichte der Türkei: Der Vorfall in Soma ist die größte Katastrophe, die es im Bergbau des Landes je gegeben hat. Es ereignete sich am Dienstag in einem Kohlebergwerk in Soma in der Provinz Manisa, etwa 250 Kilometer südwestlich von Istanbul. Einer der Toten soll erst 15 Jahre alt gewesen sein, berichtet die Zeitung Hürriyet. Minister Yıldız sagte bei seinem Besuch in Soma, es könne nicht sein, dass so ein junger Mann in einem Bergwerk tätig sei. Als aufgebrachte Menschen den Minister mit der Meldung konfrontieren, kündigt er an, zurückzutreten, wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass der Minderjährige in der Grube gearbeitet hat.

Gewerkschaften rufen zu Arbeitsniederlegung auf: Mehrere große Gewerkschaften in der Türkei rufen nach dem verheerenden Grubenunglück zum Streik auf. Zum Gedenken an die Opfer soll mehrere Minuten lang geschwiegen werden. Der Gewerkschaftsbund Türk-İş spricht im Zusammenhang mit der Katastrophe vom größten "Mord" am Arbeitsplatz in der Geschichte der türkischen Republik, gegen den protestiert werden müsse. Die Gewerkschaft KESK appellierte an ihre 240 000 Mitglieder, die Arbeit niederzulegen und erklärte: "Diejenigen, die Privatisierungen vorantreiben und zur Kostenreduzierung die Leben von Arbeitern aufs Spiel setzen, sind die Schuldigen des Massakers von Soma und müssen zur Rechenschaft gezogen werden."

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