Für die Sekte "Zwölf Stämme" ist das Urteil eine Ohrfeige. Für die Rechte und für die Würde von Kindern ist es erst einmal eine Wohltat. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat die Klage von vier Elternpaaren gegen die Bundesrepublik Deutschland abgewiesen. Um deren Kinder vor systematischer Prügelei zu schützen, wurde ihnen zu Recht das Sorgerecht entzogen, urteilten die Straßburger Richter. Ein bitterer Beigeschmack bleibt jedoch: Die ultrabiblische Gemeinschaft ist inzwischen aus Bayern nach Tschechien ausgewandert. Da schaut ihr niemand so genau auf die Finger - weil Prügelstrafen dort nicht gänzlich verboten sind.
"Züchtige deinen Sohn, so wird er dich erquicken und dir Freude machen", "Entziehe dem Knaben die Züchtigung nicht! Wenn du ihn mit der Rute schlägst, wird er nicht sterben" - es sind Bibelstellen wie diese, auf die sich die Mitglieder der "Zwölf Stämme" berufen. 2013 waren 40 Kinder von der Polizei und Mitarbeitern des Jugendamts aus der Sekte geholt worden, nachdem brutale Bilder von Züchtigungen, selbst von Kleinkindern, an die Öffentlichkeit gelangt waren.
Mit der Klage, ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sei durch den teilweisen Entzug des Sorgerechts verletzt worden, sind die Eltern zwar gescheitert. Mit ihren Züchtigungen jedoch dürfen sie weitermachen, das ist die traurige Seite dieses Falles.
In Deutschland ist das "Recht auf gewaltfreie Erziehung" seit dem Jahr 2000 gesetzlich verbrieft. Tschechien jedoch ist eines von 19 Mitgliedsländern des Europarates, die Eltern die Prügelstrafe nicht eindeutig und umfassend verbieten. Auch die Schweiz oder Großbritannien gehören übrigens dazu - ebenso wie Frankreich. Trotz einer Rüge des Europarates tun sich die Franzosen seit Jahren damit schwer, die fesseé, das Verabreichen leichter Schläge auf den Hintern, beherzt und klar zu verbieten.
All dies ist umso unbegreiflicher, wenn man die Urteilsbegründung aus Straßburg zu den "Zwölf Stämmen" liest: Die deutsche Justiz habe handeln müssen - denn das Schlagen von Kindern ist unmenschlich und erniedrigend. Und es macht keinen Unterschied, ob dies ein paar Kilometer jenseits oder diesseits der Grenzen geschieht.