Wolfratshausen:"Das Unausgesprochene wirkt fort"

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"Geschichte hat mich immer fasziniert": Stefan Treiber stieg vor vier Jahren aus der Leasing-Branche aus und machte sich als Stadtführer selbständig. (Foto: privat)

Deshalb lädt Stefan Treiber "Kriegsenkel" zum Erfahrungsaustausch ein. In Wolfratshausen soll es ein Gesprächs-Café geben, in dem sich 40- bis 60-Jährige kennenlernen - vor allem sich selbst

Interview von Stephanie Schwaderer

Mehr als 70 Jahre sind vergangen, und dennoch bestimmt der Zweite Weltkrieg noch immer das Leben vieler Menschen. Stefan Treiber, Jahrgang 1967, will deshalb in Wolfratshausen ein Gesprächs-Café für die Generation der "Kriegsenkel" etablieren: Frauen und Männer, die heute im Alter zwischen 40 und 60 Jahren sind. Die Treffen sollen alle zwei Monate im evangelischen Gemeindehaus an der Bahnhofstraße stattfinden.

SZ: Was hat in Ihnen den Wunsch geweckt, den Austausch zwischen "Kriegsenkeln" zu fördern?

Stefan Treiber: Die eigene Betroffenheit. Mein Vater stammte aus dem Sudetenland. Er war 16, als sie fliehen mussten. Seine Familie hat damals alles verloren. Die tschechischen Nachbarn und Freunde waren plötzlich Feinde. Über Österreich ist er dann nach Hessen gekommen, wo er geheiratet hat. Ich bin in Darmstadt aufgewachsen. Aber ich habe mich dort nie heimisch gefühlt. 30 Jahre lang habe ich mich fremd gefühlt, nicht zugehörig. Seit ich mich mit dem Thema der vererbten Kriegstraumata beschäftige, ergibt das plötzlich Sinn: Mein Vater war entwurzelt, er hat seine Heimatlosigkeit an mich weitervererbt.

Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?

Mein Vater hat viel erzählt, Flucht und Vertreibung waren beherrschende Themen in seinem Leben - da hatte ich Glück. Gerade das Verschweigen oder Ignorieren von traumatischen Kriegserlebnissen trägt dazu bei, dass sie von Generation zu Generation weitergegeben werden. Viele Frauen, zum Beispiel, die auf der Flucht vergewaltigt wurden, haben später ein entsprechendes Männerbild an ihre Töchter weitergegeben. Und die Töchter wurden unfähig, eine Beziehung einzugehen. Viele solcher Fälle sind dokumentiert.

Es gab 1945 nicht nur Millionen Vertriebene in Deutschland, sondern auch unzählige Nazis, Denunzianten und Mitläufer. Sich das in der eigenen Familie anzuschauen, erfordert Kraft. Selbst als Kriegsenkel: Will ich wissen, dass mein Opa ein Mörder war?

Das ist eine ganz individuelle Frage. Aber ich bin überzeugt: Wissen ist immer besser als Nichtwissen. Nichtwissen belastet. In der Bibel steht der Satz: Die Wahrheit wird euch frei machen. Das stimmt: Wissen macht frei. Auch wenn man erst einmal Scham verspürt, wenn sich herausstellt, dass der Großvater ein Nazi war. Dabei lautet die Frage ja: Was hat der Krieg aus dem Großvater gemacht? Viele Männer kamen aus der Gefangenschaft zurück und haben nichts erzählt. Aber das Unausgesprochene wirkt fort. Und Familiengeschichte lässt sich nicht ignorieren. Wenn man sich mit ihr befasst, werden plötzlich ganz neue Zusammenhänge deutlich.

Was wissen Sie von Ihren Großvätern?

Wenig. Der eine war bei der Eisenbahn, der andere Unteroffizier bei der Wehrmacht. Von ihm, dem Vater meiner Mutter, gibt es zumindest noch Fotos. Ich habe eine Anfrage bei der Wehrmachtsauskunftsstelle gestartet, die Antwort kann allerdings bis zu einem Jahr dauern.

Sie leben und arbeiten als selbständiger Stadtführer in München und bieten auch Führungen durch die Gedenkstätte Dachau an - warum eröffnen Sie das Gesprächs-Café ausgerechnet in Wolfratshausen?

Ich habe bei diesem Projekt einen Partner, Günther Achatz, der mit seinem Unternehmen "Kultourtaxi" in Murnau angesiedelt ist. Wir kennen uns aus Dachau, auch er macht dort Führungen. Wir waren uns schnell einig, dass wir das Gesprächs-Café im ländlichen Raum eröffnen wollten, wo es noch keine entsprechenden Angebote gibt. In Wolfratshausen haben wir in Pfarrer Florian Gruber einen idealen Ansprechpartner gefunden - und treffen uns nun auf halben Weg.

Wen möchten Sie in Ihr Café einladen?

Alle Menschen, die Interesse haben, sich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Ihnen wollen wir eine Plattform bieten, einen geschützten Rahmen, in dem sie sich austauschen können. Ziel ist es, sich selber besser zu verstehen, zu erkennen, was einen geprägt hat - positiv wie negativ. Was wir definitiv nicht leisten können, ist eine Therapie. Zumindest beim ersten Treffen werden aber kompetente Ansprechpartner dabei sein: Pfarrer Gruber als Seelsorger und eine Psychotherapeutin, die mit den nötigen Adressen weiterhelfen kann.

Sie haben in Wolfratshauser Geschäften schon Zettel verteilt. Wie waren die Reaktionen?

Sehr interessant! Die ganze Bandbreite. Die einen haben gesagt: Schön, dass nun auch einmal die Enkel dran sind. Andere haben abgeblockt: Das hat man doch schon alles einmal gehört. Diese direkten Begegnungen finde ich immer spannend, auch bei meinen Führungen. Ich suche Anknüpfungspunkte, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Tatsächlich stirbt die Generation der Kriegskinder ja gerade aus. Wenn man von den Eltern noch etwas wissen will, muss man jetzt fragen. Nur wer seine eigene Geschichte vernünftig geklärt hat, kann sich anderen gegenüber öffnen und zuwenden. Aktuelle Bezüge zur deutschen Vergangenheit gibt es derzeit ja reichlich.

Das erste "Gesprächs-Café für Kriegsenkel" findet am Donnerstag, 2. Juni, im Gemeindehaus der evangelischen Kirche in Wolfratshausen (Bahnhofstraße 2) statt. Beginn ist um 19.30 Uhr. Stefan Treiber hat eine Facebook-Gruppe angelegt www.facebook.com/groups/1202518636426754

© SZ vom 12.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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