Theater:Wonne der Verunsicherung

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Mit "Der große Marsch" zeigt die Komische Gesellschaft in Bad Tölz ein eigentlich unspielbares Stück.

Von Lea Utz, Bad Tölz

Das Theater und die Welt, Fiktion und Realität, der Tod - es sind die ganz großen Fragen, die in Wolfram Lotz' zeitgenössischem Drama "Der große Marsch" verhandelt werden. "Das unmögliche Theater ist möglich!", postuliert er. Nichts Geringeres hat das Ensemble der Komischen Gesellschaft bei der Premiere seines eigentlich unspielbaren Stücks unter Beweis gestellt.

Die Ausgangslage: Die Schauspielerin - überzeugend verkörpert von Verena Peck - begrüßt auf der Bühne nacheinander ein Panoptikum skurriler Persönlichkeiten. Unter ihnen ist der Autor selbst, der mit dem Skript, und die Regisseurin, die mit der Wahrheit ringt. Ein Strudel abstrakter Begegnungen entwickelt seinen Sog - nur, in welche Richtung eigentlich?

Wenn Verena Peck ein ganzes Panoptikum skurriler Persönlichkeiten auf der Bühne empfängt, werden irreführende Regieanweisungen eingeblendet. (Foto: Manfred Neubauer)

Einmal steht der frühere Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann auf der Bühne und muss sich dafür rechtfertigen, dass er als Figur so viel häufiger im Theater ist als als Person. Dann muss sich Patrick S., der mit seiner Schwester vier Kinder gezeugt hat und dafür mehrere Male zu Haftstrafen verurteilt wurde, dem Verhör der überheblichen Schauspielerin stellen. "Wir sind hier nicht in der Unterschicht, wir sind hier am Theater!", wettert sie. Hamlet wiederum erklärt, dass sein Auftritt dokumentarisches Theater sein soll. Als die Schauspielerin ihn ungeduldig darauf aufmerksam macht, dass er nun auch schon andere Sachen gesagt habe, verlässt er die Bühne.

Komplette Verwirrung: Selbst in der Pause im Foyer liefert die Komische Gesellschaft Szenisches auf der Leinwand. (Foto: Manfred Neubauer)

Immer provozierender drangsaliert die Schauspielerin ihre "Opfer", darunter auch Arbeitgeberfunktionär Dieter Hundt und eine Gruppe Sozialhilfeempfänger. Es ist die überzogene Darstellung des zeitgenössischen Theaters, das unbedingt politisch sein will und die Realität nicht zuletzt deshalb verfehlt.

Mit der Wirklichkeit ist das ohnehin so eine Sache. Immer wieder werden Regieanweisungen wie diese eingeblendet: "Dann klatscht das Publikum - zum Teil, weil es ihm gut gefallen hat, zum Teil aus Respekt vor der schauspielerischen Leistung." Das Publikum ist erheitert - und wird durch seinen Applaus selbst zum Akteur. Sogar das Bühnenbild, das in erster Linie aus einer an den Künstler Erwin Wurm angelehnten Skulptur besteht, soll zeigen: Fiktion ist nichts anderes als der Perspektivwechsel im Blick auf die Wirklichkeit.

Das Ensemble unter der Regie von Ulla Haehn verlangt dem Publikum einiges ab - und begeistert mit ungezähmter Spielfreude und mutigen Ideen. Spektakulär ist die Szene, in der alle Schauspieler schließlich die Bühne stürmen und dem Publikum ein Feuerwerk absurder Bilder präsentieren. Selbst als im zweiten Teil der Tod in den Mittelpunkt rückt, gelingt es ihnen, eine schräge Komik zu entwickeln. Szenenapplaus gibt es beim Auftritt von Bakunin, gespielt von Majid Mehyo, der beschließt, das Vorbeigehen der Zeit einfach aufzulösen. Und dann gleiten auch noch die 50 Töchter des Meeresgottes Nereus auf die Bühne. Mitunter bleibt das Publikum etwas ratlos zurück, doch das fördert laut Programmheft schließlich die geistige Beweglichkeit. Erstaunlich, wie viel Freude es macht, sich von dieser Truppe vollständig verunsichern zu lassen.

© SZ vom 17.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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