Wohn-Projekt:Die Großfamilie

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Im Domagkpark hat die Genossenschaft "Wagnis" ein ungewöhnliches Projekt verwirklicht: Insgesamt 180 Mitglieder investieren 42 Millionen Euro in ein Wohn-Ensemble mit vielen Gemeinschaftsflächen und "Cluster"-Wohnungen

Von Stefan Mühleisen, Schwabing/Freimann

Viel ist an diesem Vormittag nicht los auf dem Dorfplatz. Zwei kleine Mädchen treten in die Pedale ihrer Räder, daneben schleppt ihre Mutter einen vollen Wäschekorb. Eine ältere Frau kniet an einem Rosenstrauch und senkt die Schere. Kleine Pause, herzliches Grüßen, breites Lächeln. "Es ist hier wie in einer Großfamilie", sagt Elisabeth Hollerbach. Willkommen in der kleinen Welt der Wagnis-Genossen, ein kleines Wohn-Wunder in der an solchen Wundern noch armen Münchner Immobilienlandschaft.

Es ist ein beachtliches Gefüge, das sich die Genossenschaft Wagnis hier, auf der ehemaligen Kasernenfläche des Domagkparks in Nordschwabing, hingestellt hat: Fünf Häuser - sie tragen die Namen der fünf Kontinente - fügen sich zu einem pittoresken Ensemble. Die Gebäude sind mit einer umlaufenden Ringterrasse verbunden, es gibt einen Waschsalon, Werkstätten, Nähstube, Sauna, Gästewohnungen, bald zudem einen Saal und ein Café - alles gemeinschaftlich nutzbare Räume für alle Bewohner in den 138 Wohnungen. Dazu jede Menge Platz im zentralen Atrium, "Dorfplatz" genannt. Die Kosten: 42 Millionen Euro, aufgebracht von 180 Genossen. Am 16. September soll alles fix und fertig sein. Elisabeth Hollerbach freut sich schon sehr darauf. "Es war wieder mal ziemlich aufreibend", sagt sie.

Hollerbach ist die Leiterin des Projekts, das den Titel "Wagnis Art" trägt; lange war sie geschäftsführender Vorstand der im Jahr 2000 gegründeten Solidargemeinschaft. Fünf Bauprojekte mit insgesamt 420 Wohnungen, etwa am Ackermannbogen und in Riem, hat dieses Bündnis schon durchgezogen. Wagnis zählt damit zu den Protagonisten einer Genossenschafts-Renaissance in München. Das Kollektiv will nicht wie viele der teils 100 Jahre alten Alt-Genossenschaften allein Bestand verwalten, sondern neue Quartiere bauen: Wohnblöcke, in denen die Mieter ihre eigenen Vermieter sind, Miteigentümer und Mitnutzer - eine Art bürgerliche Kommune.

Doch wer nicht wie Investoren über das Kapital verfügt, sondern es erst zusammenkratzen muss, für den kann auch das fünfte Projekt wieder aufreibend werden. Hollerbach erzählt von langen Debatten mit der Planungsbehörde; von dem Aufwand, alle Akteure zu organisieren, dazu die Überzeugungsarbeit bei den Banken. Es sei nicht einfach, verständlich zu machen, dass das eine Drittel Eigenkapital - der Rest wird über Förder- und Normalkredite aufgebracht - von Dutzenden Personen komme. Allein: Bei "Wagnis Art" ging das Hollerbach zufolge ziemlich glatt. "Stadt und Banken wissen inzwischen, dass wir solide aufgestellt sind."

Das liegt daran, dass die Stadt das Potenzial der Mitmach-Bündnisse längst erkannt hat: Bis zu 40 Prozent der Flächen in Neubaugebieten wie dem Domagkpark stehen Genossenschaften zur Verfügung. Sie bekommen sie überdies mitunter zum günstigen Verkehrswert. Die demokratisch organisierten Projektanten sind zu willkommenen Akteuren auf dem Wohnungsmarkt geworden. Stadtbaurätin Elisabeth Merk sagte schon vor einiger Zeit: Genossenschaften förderten die Nachbarschaft und schüfen einen Mehrwert, "den man von den ganz normalen Immobilienwirtschaftlern so nicht kennt".

Das fängt bei der Architektur an: Bogevischs Büro und Stadtplaner, Schindler Architekten und Walter Hable Architekten schufen auf 10 000 Quadratmetern eine burgartige, terrassierte Anlage, die aber mit den hohen Tor-Durchlässen nicht abgeschottet wirkt. Überdies: Genossenschaften geht es nicht nur ums gemeinschaftliche Wohnen, sondern auch ums Teilen des Lebensraums. Das sieht man etwa oben auf dem Dach des Hauses "Asien", wo frischer Humus für Gemüsepflanzen ausgelegt ist - bereit dafür, Seite an Seite beackert zu werden. Die Genossen, sie wollen und sollen ein gedeihliches Miteinander haben, auf den Dachgärten, in Ateliers, Proberäumen, Büros; auch ein Saal für Theateraufführungen und Konzerte ist fast fertig. "Jeder ist überall zu Hause", beschreibt es Elisabeth Hollerbach.

Was man von Immobilienwirtschaftlern auch nicht kennt, ist die Förderung von alternativen Wohnformen, für Wagnis ein weiteres Erschwernis. Denn die Genossenschaft musste die Mischung aus München-Modell, geförderten und frei finanzierten Wohnungen einhalten, entsprechende Grundrisse realisieren - und Interessenten dafür finden. Je nachdem zahlten die Genossen zwischen 300 und 950 Euro pro Quadratmeter Einlage; dafür lässt sich eine Miete von etwa 13 Euro pro Quadratmeter realisieren - dauerhaft, ohne Mieterhöhungen. Und Wagnis fand genügend Leute, die bei der alternativen Form des "Cluster"-Wohnens mitmachen.

Das sind Wohngemeinschaften, in denen sich bis zu einem Dutzend Einzel-Apartment-Bewohner einen Wohn- und Küchenbereich teilen. "Ich habe einen Draht zu dieser Wohnform", sagt Wolfgang Beyer. Zufrieden schaut er sich in der nahezu fertig eingerichteten Küche im "Europa"-Haus um. 20 000 Euro habe die Ausstattung gekostet. Alleine, so sagt der pensionierte Physiker, hätte er sich das nie leisten können. "Ich finde es spannend, so zu wohnen, ohne die Nachteile zu haben." Zum Beispiel: ermüdende und oft fruchtlose Diskussionen, wer das Bad und die Toilette putzt. Denn Beyer hat sein eigenes Klo und Badezimmer im 40-Quadratmeter-Apartment.

Dem Miteinander sind allerdings auch Grenzen gesetzt. In den Planungs-Workshops gab es Hollerbach zufolge manche, die alles bis ins Detail festlegen wollten, bis hin zu den Steckdosen. "Es kann keine Selbstverwirklichung in der Steckdose geben, habe ich immer gesagt", erinnert sie sich. Die Genossen sahen das ein - und überreichten ihr zum Dank einen Baum, geschmückt mit lauter Steckdosen.

© SZ vom 14.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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