SZ-Adventskalender:Mit elf Jahren zur Flucht gezwungen

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Froh, dass es vorbei ist. Aber um richtig anzukommen in der neuen Heimat, brauchen die oft traumatisierten Menschen Unterstützung. (Foto: Stephan Rumpf)

Als seine Brüder ermordert wurden, floh Hussein Jafari aus Afghanistan. Er schuftete in einer Hühner-Schlachterei, er bewältigte tagelange Fußmärsche und lebte monatelang im Wald. Nun will er sich eine Existenz in München aufbauen.

Von Bernd Kastner

Er hatte zwei Brüder, einen jüngeren, einen älteren. Der Älteste sorgte nach dem Tod der Eltern für seine beiden Geschwister. Als Hussein eines Tages von der Schule heimkam, waren seine Brüder tot. Ermordet. Wer das getan hat, er weiß es nicht, er war ja auch erst elf Jahre alt, was versteht ein Kind schon von dem, was die Nachrichtensprecher "ethnische Auseinandersetzungen" nennen. Was Alltag war und ist in Afghanistan, der Heimat der Familie Jafari. Als Hussein plötzlich allein war, rieten ihm die Nachbarn, sich zu verstecken, am besten im Ausland. Hussein machte sich auf den Weg.

Jetzt ist Hussein Jafari (Name geändert) ein junger Mann mit 19 Jahren. Er sitzt in seinem kleinen Zimmer auf der Couch, an der Wand ein Poster mit der Fußballnationalelf, der deutschen natürlich, und der WM-Pokal ist auch drauf. Jafari arbeitet seit September in einem Architekturbüro.

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Der Iran war Husseins erste Station, er fand Unterschlupf in einer Hühner-Schlachterei. Mit zwölf anderen lebte er in einem Zimmer, Erwachsene und Gleichaltrige, Flüchtlinge wie er. Jeden Tag arbeitete er, nur der Freitag war frei. Das Betriebsgelände zu verlassen, wagte er nicht, er war illegal im Land, wehe, sie erwischten ihn. Seine Schicht begann abends um acht, die erste Zeit hat er geputzt, später die Innereien der Tiere gesäubert, Herz und Magen. "Das war so. Ich musste", sagt er mit leiser Stimme. "Schwer, aber hab ich überlebt." Seinen Verdienst gab er einem älteren Jungen, der drauf aufpasste. Vier Jahre ging das so, bis er nicht mehr konnte. "Ich war müde." Da hat er sein Erspartes genommen, hat sich noch etwas geliehen und sich wieder auf die Reise gemacht.

In Deutschland glaubten ihm die Behörden nicht

Es ist nicht leicht für Hussein Jafari, all das zu erzählen, er musste es erst lernen. Als er in Deutschland angekommen war, haben ihm die Behörden nicht geglaubt, nicht einmal, dass er erst 15 ist. Sie haben ihn für volljährig erklärt, 19 Jahre alt.

Da hatte er gerade die zweite Fluchtetappe hinter sich, neun Monate. Vom Iran in die Türkei, weiter nach Griechenland, einmal ist er 38 Stunden lang zu Fuß gegangen, dann wieder mit dem Auto gefahren. Schlepper haben ihm geholfen - und kassiert. Auf einer griechischen Insel hat er drei Monate im Wald gelebt, und dort hat er andere Jugendliche von einem Land namens Deutschland reden hören. "Damals wusste ich nicht, was Deutschland ist." Aber er hörte, dass Minderjährige dort Hilfe bekommen, ohne arbeiten zu müssen. Also versteckte er sich auf einem Lastwagen, der fuhr auf ein Schiff, und das nach Italien. Weiter mit dem Zug nach Frankreich, und als er an einem großen Bahnhof ausstieg, war er in München.

Jetzt hatte er Glück. Obwohl offiziell volljährig, bekam er einen Platz in einem Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Bärbel Preuss, seine Betreuerin, sah ihn und protestierte: Nie und nimmer ist dieser Junge schon 19! Sie schrieb Briefe, auch ans Familiengericht, so lange, bis es zur Verhandlung kam. Der Richter schaute den angeblich erwachsenen Hussein Jafari an - und entschied: 16 Jahre, endgültig. Hussein lebt bis heute in einer Jugendhilfeeinrichtung zusammen mit anderen Flüchtlingen aus Afghanistan, Somalia, Sierra Leone oder Tunesien. Es ist ein Refugium für junge Menschen mit geschundener Seele.

Haji Mohamed Karim überlebte eine Autobombe

Viele Flüchtlinge haben Schreckliches hinter sich, wenn sie Deutschland erreichen. Sie sind traumatisiert von Gewalt und Flucht, auch wenn ihre seelischen Narben unsichtbar sind. Wer aber Haji Mohamed Karim trifft, der versteht sofort.

Weihnachten 1998. Er weiß noch genau, wie er seine Autotür geöffnet hat. Er war Taxifahrer und wollte einsteigen, die linke Hand hatte er am Türgriff. Es war halb vier Uhr nachmittags, in der Nacht zuvor war seine Tochter Payman geboren worden. Jetzt wurde es plötzlich dunkel, und wenig später, er lag am Boden, hat er jemanden sagen hören: Der Mann ist tot.

Haji Mohamed Karim hat die Autobombe überlebt, anders als eine Frau mit einem kleinen Kind. Als er im Krankenhaus seine Augen öffnete, erzählt er, hat er seine Arme gesehen. "Alles war kaputt." Am 26. Dezember 1998 hat Haji Mohamed Karim, 28 Jahre alt damals und Vater von fünf Kindern, beide Hände verloren. Die Bombe hat auch ein Auge fast zerstört.

Karim ist Kurde, zu Hause im nordirakischen Mosul, die Bombe ist in Dohuk explodiert. Seither bestimmen Schmerzen sein Leben, und erst jetzt, 16 Jahre später, steht er kurz vor einem neuen Leben, das seinem alten zumindest annähernd gleicht. Er hat gelernt, Auto zu fahren, das geht auch ohne Hände. "Ich will arbeiten", sagt er. Mit einem Auto könnte er einen Lieferservice aufmachen, könnte Pizza ausfahren oder Hotels beliefern. Er würde Geld verdienen, und seine Kinder hätten, was er nicht hatte: Eine gute Startposition in Deutschland.

Nach der Explosion haben sie ihn neun Stunden lang operiert, sein Gesicht war voller Splitter. Dann kam er nach Istanbul, zweieinhalb Monate lag er dort in der Klinik. Karim wagte nicht, zurückzukehren in seine Heimat. Mit seinem Bruder floh er nach Deutschland, versteckt auf der Ladefläche eines Lastwagens, tagelang lagen sie eingekeilt. 12 000 Dollar hat jeden die Reise gekostet. An einer Tankstelle in München sind sie durch eine Luke ins Freie geklettert.

Es war am 17. Juli 1999, als er seine erste deutsche Unterkunft betrat, Karim weiß auch das noch genau. Obergiesing, Untersbergstraße. Da ahnte er noch nicht, dass er die folgenden zehn Jahre weitere Heime kennenlernen sollte: Als er in Passau ankam, wog er noch 45 Kilo. Dann wieder zurück nach München in die Thalkirchner Straße, weiter nach Milbertshofen, dann Pasing, Englschalking, Kieferngarten. Zehn Jahre leben auf engstem Raum, kaum Privatsphäre. Wie gut, dass sein Bruder immer bei ihm war, wie hätte er sonst essen sollen, ohne Hände.

Karim hat gelernt, mit den Stümpfen zu leben

Haji Mohamed Karims Arme gestikulieren, als wären noch Hände an ihnen. Er hat gelernt, mit den Stümpfen zu leben, aber sie schaffen nur das Nötigste. Karim ist gerade 44 Jahre alt geworden, er wirkt nicht verzagt, er hadert nicht. Sie haben ihn unzählige Male operiert, an die 50 Bombensplitter aus seinem Gesicht geschnitten. Noch immer sieht man schwarze Punkte unter den Augen. Immerhin, die Ärzte haben sein Augenlicht wiederhergestellt, aber immer wieder kamen die Schmerzen in den Armen, immer wieder sind sie entzündet. Er hat aber nicht aufgegeben.

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Haji Mohamed Karim steht stellvertretend für sehr viele Flüchtlinge: Sie haben in Deutschland einen schwierigen Start, und dennoch, die Menschen sind dankbar, dass ihnen Deutschland Zuflucht gewährt. Dafür revanchieren sie sich, mit ungeheurer Energie bauen sie sich ein neues Leben auf. 2006 ist Karims Frau mit fünf Kindern nach München nachgekommen, auch ihre Flucht war teuer und gefährlich, sie führte über Syrien, wo damals noch kein Krieg tobte, dann weiter in einem Lastwagen via Türkei und Italien.

In München lebte die ganze Familie zunächst in einem einzigen Zimmer, vor sieben Jahren kam die jüngste Tochter zur Welt. Erst später haben die Karims eine ausreichend große Wohnung in der Messestadt gefunden.

"Ich will wieder arbeiten!"

Und jetzt, da sich Haji Mohamed Karim gesundheitlich wieder stabil fühlt, will er sich eine eigene Existenz aufbauen, mit einem Lieferservice. Ricarda Wank von handicap International, mit der Karim darüber lange gesprochen hat, hält die Idee für realistisch. "Er ist begeistert, er steht dahinter", sagt sie und erzählt von seiner Idee, wie er, der Mann ohne Hände, kassieren will, wenn er eine Pizza ausliefert: Einen Beutel will er sich umbinden, in den sollen die Kunden selbst das Geld stecken und das Wechselgeld entnehmen. Gemeinsam überlegen sie, wo er finanzielle Förderung bekommen könnte oder einen günstigen Kredit. Denn allein der nötige Umbau eines kleinen Lieferwagens ist sehr teuer. Den Kampf gegen den Tod hat Karim gewonnen, jetzt beginnt der um sein neues Leben: "Ich will wieder arbeiten!"

Hussein Jafari, der junge Afghane, spricht leise, und man hört ihn kaum noch: "Ich bin froh, dass es vorbei ist." Flucht und Kinderarbeit sind Vergangenheit. Sein Deutsch ist gut, er ist einer dieser jungen Flüchtlinge, von denen Lehrer und Betreuer schwärmen. Weil sie so motiviert sind, weil viele Betriebe auf solche Mitarbeiter warten. Er hat seinen Hauptschulabschluss bestanden und macht eine Ausbildung zum Bauzeichner. Das macht ihm Spaß, "die Kollegen sind alle so nett", aber die Berufsschule bereitet ihm Sorgen, er muss zwei Referate vorbereiten, über Finanzpolitik und Zuwanderung.

Zwar verdient er eigenes Geld, aber viel bleibt ihm nicht, weil er für seinen Jugendhilfeplatz einiges abgeben muss. Dabei braucht er, um voran zu kommen in Schule und Beruf, ein Notebook, ohne Computer geht es nicht mehr. Und klar, Winterkleidung und ein Fahrrad wären sinnvoll, und er hätte gerne richtige Fußballschuhe. Die sind nicht lebenswichtig, aber Fußball ist Fußball.

Zweimal die Woche trainiert er bei Olympia Moosach, sonntags treffen sie sich zum Spiel. Was er sich sonst wünscht? Er lächelt verlegen, man merkt, dass er das Wünschen nicht gewohnt ist. "Dass ich hier in Frieden leben kann", sagt er. "Und dass ich eines Tages selbständig bin."

© SZ vom 06.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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