SZ-Adventskalender:Alles gegeben, fast alles verloren

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Roberto Panzoni hat sein ganzes Leben lang geschuftet - dann machte sein Körper schlapp. Für die vielen Medikamente reicht das Geld kaum

Von Pia Ratzesberger, München

Eines vergäßen die Menschen, sagt der Mann. Er sitzt da auf seinem Stuhl, wie ein Weiser aus einem Märchenbuch, der einen Rat gibt. Sie vergäßen, dass es das Wichtigste sei, am Morgen aufzustehen. Er deutet hinüber in die Ecke, da steht der andere Stuhl noch immer, als Erinnerung, vielleicht auch als Mahnmal. Aus diesem Stuhl ist Roberto Panzoni vor vier Jahren lange nicht mehr aufgestanden. Nun nimmt er acht Medikamente jeden Morgen. Ein Fünftel der normalen Leistung arbeitet sein Herz. Eineinhalb bis zwei Stunden reicht sein tragbares Sauerstoffgerät. Er läuft morgens den Bürgersteig vor seinem kleinen Apartment entlang, zu mehr würde es auch nicht reichen. Allein für die Arztrezepte geht manchmal schon ein Viertel seines Monatsgeldes drauf - da bleibt nicht mehr viel fürs Leben.

Aber wenigstens könne er wieder aufstehen, sagt Panzoni, 52 Jahre, er hat das sein ganzes Leben getan. Er ist aufgestanden in Eritrea, in der Stadt Keren, die nach Nelken und Pfeffer duftete. Er ist aufgestanden in der Wüste, auf der Flucht. Er ist aufgestanden in Bari, im Süden Italiens, wo Algen in der Sonne trockneten. Er ist aufgestanden in München, eigentlich nur, weil er mit einem Kumpel um 500 000 Lire gewettet hatte. Doch er blieb. Ist früh aufgestanden, fünf Uhr Schichtbeginn, Gebäudereinigung. Tische abwischen und Böden wachsen. Panzoni stockte schon damals manchmal der Atem, schweres Asthma, dann sprühte er das Cortisonspray in die Nasenflügel. "Pff, pff, und alles wieder gut", sagt Panzoni. Die Menschen vergäßen, sagt er, dass der Körper nicht vergesse. Aus seinen Nasenflügeln windet sich ein Schlauch, führt hinunter zum Boden, quer durch den Raum, zu einem Sauerstoffgerät, groß wie eine Mülltonne. Funktioniert der Körper nicht mehr, zwängen die Menschen ihn mit Medikamenten dazu, hetzen weiter. Bis der Tag kommt, an dem sie erinnert werden, dass es das Wichtigste sei, morgens aufzustehen. Bei ihm kam dieser Tag 2011. Herzinfarkt. Er saß gerade mit einem Freund im Auto, sie bogen ab zum Krankenhaus. Zwei Tage nachdem er das Hospital verließ, zweiter Infarkt. Er konnte nicht mehr arbeiten, seine Familie zerbrach, er verlor die Wohnung, musste umziehen in eine Pension. Der Stuhl in der Ecke, der stammt aus dieser Zeit. Panzoni sucht ein Foto von seiner Tochter, 18 Jahre sei die jetzt, arbeite im Verkauf, sehr fleißig. Er lächelt, streckt das Bild entgegen. Auch er steht heute wieder auf, doch hetzen, putzen, Schichten machen, das könnte er nicht mehr. 400 Euro bleiben ihm im Monat. Die Taxifahrten zum Arzt übernimmt die Kasse nicht - hier ist er auf Hilfe angewiesen, genauso wie bei den Medikamenten. Trotzdem, sagt Panzoni, sei er dankbar. Aufstehen sei das Wichtigste.

© SZ vom 16.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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