Studie:"Wenn ich Probleme hab', lös' ich sie selbst"

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Soziologen der Münchner Universität wollen die Motive von Nichtwählern erforschen. Sie gehen in Jugendzentren und Arbeitslosentreffs. Und sie erleben dort: Nur wenn Politiker zuhören und auf Augenhöhe debattieren, erreichen sie die Menschen

Von Sophie Rohrmeier

Sie haben sich extra T-Shirts angezogen. Tomas Marttila und Philipp Rhein kommen in einen Raum voller junger Menschen. Die beiden Männer sind Wissenschaftler, Akademiker also, die jungen Menschen sind arbeitslos. "Was konkret beschäftigt euch in eurem Alltagsleben?", fragen Marttila und Rhein. "Gras ist viel zu teuer geworden", sagt einer aus der Runde. Es ist schwierig.

Die jungen Leute provozieren. Sie testen die Reaktion der beiden Männer, die da einfach kommen und etwas wollen von ihnen. "Was heißt das?", fragt Marttila dann zum Beispiel zurück. "Wie teuer ist es denn?" Die Wissenschaftler geben nicht auf. Sie setzen nicht die Grenze, die von ihnen schon trotzig erwartet worden war und weiter zu überschreiten wäre. Sie fragen weiter, ganz offen. Herausgekommen ist eine Studie, deren erste Befunde sie nun, drei Monate vor der Bundestagswahl, an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) vorgestellt haben. Wer sind Nichtwähler eigentlich - und warum geben sie ihre Stimmen nicht ab?

Das wollten Philipp Rhein und zwei weitere junge Wissenschaftler unter der Leitung des LMU-Soziologen Tomas Marttila und im Auftrag der Fachstelle für Demokratie der Stadt München herausfinden und begannen mit dieser nicht-repräsentativen, qualitativen Studie. Umfragen sehen den Anteil der Nichtwähler derzeit bundesweit bei mehr als 20 Prozent. Jeder Fünfte also, der in Deutschland zur Wahl gehen darf, nutzt dieses Recht nicht, das in Demokratien als zentrale Form der politischen Teilhabe gilt. Und damit auch als Gradmesser für die Legitimation der Politik, wie die Studienautoren betonen.

Sie werteten Wahl- und Sozialstatistiken aus, sie zeigen: Seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung, am stärksten bei Kommunalwahlen; in manchen Stadtteilen geht nur etwas mehr als ein Drittel der Wahlberechtigten wählen. Die Statistiken zeigen auch eine deutliche Spaltung und große Unterschiede zwischen einzelnen Stadtteilen. In Milbertshofen stieg die Zahl der Nichtwähler am stärksten, dort leben auch überdurchschnittlich viele Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger. Nicht nur die soziale, auch die politische Ungleichheit nehme zu, sagt Philipp Rhein.

Warum aber nehmen sich sozial Benachteiligte nicht mehr von ihrem politischen Recht? An diesem Punkt helfen Statistiken den Soziologen nicht mehr weiter. Deshalb befragten die Forscher um Marttila seit Oktober vergangenen Jahres ungefähr 60 Münchner zwischen 18 und 65 Jahren in Gruppen und am Telefon, vor allem aus Milbertshofen, Ramersdorf und der Schwanthalerhöhe, sie gingen in Jugendzentren und Arbeitslosentreffs.

Im Januar zum Beispiel. Wieder eine Begegnung mit jungen Auszubildenden, ohne jegliche politische Vorerfahrung. In diese Gruppe hinein marschiert Marttila mit seinen jungen Forschern. "Wir haben denen gesagt, was wir vorhaben", erzählt der Soziologe, "und wir dachten, da will keiner mitmachen." Das Team täuscht sich, 14, 15 Leute wollen sofort dabei sein. "Die haben bei uns Bestätigung gefunden." Es war jemand zu ihnen gekommen, der zuhört, sie respektiert. "Die hatten so viel zu erzählen, und alles, was sie zu erzählen hatten, war interessant", sagt Marttila. "Die haben uns gefragt, ob wir nicht eine Partei gründen wollen, sie würden uns sofort wählen." Die Forscher und ihre Studienteilnehmer - sie sprachen gemeinsam, wenn es half, im Dialekt, sie duzten sich. Rhein erzählte von der hohen Miete, die auch er zahlen müsse, vom teuren Nahverkehr, sein Kollege vom Hip-Hop.

Zuhören, Akzeptanz, auf Augenhöhe: Das ist der erste Ausgangspunkt für politische Partizipation, sagen die Forscher. Und zugleich warnen sie: mit schnellen Treffen, mit Ansprache von oben herab, mit moralisierender Haltung komme niemand weit. Nichtwähler merkten sehr genau, wenn sie instrumentalisiert werden sollen. Habt Ihr schon mal erlebt, dass irgendwie Politiker hier bei euch im Betrieb waren, oder irgendwo? Die Frage eines der Wissenschaftler. "Nur zu irgendwelchen Veranstaltungen", antwortet ein Teilnehmer, "wo dann vorne Reden gehalten werden, ja, was für tolles Projekt das hier ist, ähm, ja, wie schön, was für Erfolge hier schon reingefahren wurden und sonst was, aber sonst ist hier keiner."

Menschen, die auf die Hilfe öffentlicher Institutionen angewiesen sind, bilden ihre Meinung über Politik auf der Grundlage ihrer negativen Erfahrungen mit diesen Einrichtungen, das persönlich Erlebte wird verallgemeinert. Das ist eine der Thesen der Studienautoren, Endergebnisse gibt es noch nicht, das Projekt läuft noch bis September. Aber die ersten Befunde legen nahe, dass Nichtwähler Politik ganz unterschiedlich wahrnehmen und von ihr ganz unterschiedliche Dinge erwarten. Wer soziale Ungleichheit bereits erfahren habe, werde politisch passiver - das ist eine Erkenntnis der Untersuchung. Negative persönliche Erfahrungen werden nicht nur verallgemeinert, sie schränken auch die Motivation ein, sich zu beteiligen, und sei es durch den Gang ins Wahlbüro.

"Das sind Leute, die irgendwo anders sitzen und die irgendeinen Scheiß reden. Und wenn ich Probleme hab', lös' ich sie selbst, mach's, passt, fertig." Das sagt einer von den jungen arbeitslosen Nichtwählern. Ich hab dann versucht, äh, im bayerischen Landtag, hab da angerufen, ob ich da, ähm, ne Sprechstunde gibt. Und ich weiß, ich hab da echt, Höll, Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, dass ich diesen Blödmann dann da irgendwann erreiche." Es gelang diesem Bürger nicht. Da ging er nicht mehr wählen.

Marttila und seine Kollegen dagegen kamen direkt hin, zu den Bürgern. Sie wollten etwas von den Nichtwählern. Informationen über sie, von ihnen direkt. Um ihnen mehr Einfluss zu geben im demokratischen System, auf dem Weg der Wissenschaft. So kamen sie vom teuren Gras zur Legalisierung von Drogen. Und so zur Politik. Ganz ohne Parteipolitik.

© SZ vom 28.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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