Theater:Extreme auf der Flucht

Lesezeit: 2 min

Innerhalb eines Jahres haben 22 Jugendliche aus Starnberg und Wolfratshausen das Theaterstück "Mädchen und andere Flüchtlinge" einstudiert: Im Zug nach Istanbul treffen Menschen aufeinander, die allesamt verschiedene Probleme haben und doch nur ein gemeinsames Ziel haben: Sie wollen weg. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Schauspieltrainerin Katharina Schwarz und ihr 22-köpfiges Jugend-Ensemble gehen mit "Mädchen und andere Flüchtlinge" auf Tournee. Premiere ist am Freitag im Gautinger Mädchenhaus

Von Florine Pfleger, Starnberg

Ein Neonazi sitzt neben einer Schwangeren, die dem afghanischen Vater ihres Kindes hinterher reist. Ein Menschenhändler neben zwei Abiturientinnen, die ihre Prüfungen schwänzen. Und der Sohn des "Bayer"-Konzernchefs neben einem jungen deutschen Mann, der für den Islamischen Staat in den Krieg ziehen will. Eine Bündelung derart verschiedenartiger Charaktere gibt es nur an wenigen Orten. Ganz im Stil des Agatha-Christie-Klassikers "Mord im Orient-Express" hat Schauspieltrainerin Katharina Schwarz für ihr Stück "Mädchen und andere Flüchtlinge" alle zusammen in den Zug gesetzt.

Es ist ein ungewöhnliches Theaterstück, dass die 22 jungen Schauspieler aus Starnberg und Wolfratshausen bei der Generalprobe im Starnberger Jugendhaus "Nepomuk" zeigen. Es wurde im Lauf der letzten Monate erarbeitet. Die Idee zum Projekt entstand im Vorjahr bei einem Wochenendseminar, erzählt Schwarz. "Die Kinder wollten sich in extreme Charaktere hineinversetzen". Jeder habe sich seine Rolle selbst überlegt. Schwarz entwickelte daraus das Theaterstück, für das dann fast ein Jahr an Wochenenden geprobt wurde. "Es war erstaunlich. Die Jugendlichen haben ja teilweise bis 17 Uhr Unterricht und dazu dauernd Prüfungen und waren trotzdem bereit dazu ihr Wochenende zu opfern", sagt Schwarz. Dieser schulische Druck ist ebenfalls ins Stück übersetzt worden: Abiturientinnen machen feuchtfröhlich im Zug viel Lärm, um ihre Prüfungsgedanken zu verdrängen.

Die Fahrt geht von München nach Istanbul und lenkt so den Fokus von den kleinen Brennpunkten im Zug nach außen aufs Weltgeschehen. Im Budapester Bahnhof etwa rennt ein kleiner Straßenjunge ins Abteil, um sich seine Tagesration Essen zu klauen. Diese Rolle hat Schwarz doppelt besetzt. Einer der Schauspieler - Talash Zabiullah - ist afghanischer Flüchtling. Schwarz ließ ihn mit ein paar anderen Flüchtlingen kostenlos an ihren Kursen teilnehmen. Alle halfen ebenfalls mit eigenen Erfahrungen bei der Entwicklung des Stückes, erzählt sie vor der Generalprobe.

Während der Aufführung zeigt sich aber schnell, dass es hier im Kern nicht um den Begriff Flüchtling geht, wie ihn etwa die AfD dieser Tage deutet. Nur einmal fährt der Zug an einem Flüchtlingslager vorbei. Tatsächlich geht es um jegliche Art von Flucht: Die Schwangere flüchtet vor der Realität, zumal der Vater ihres Kindes nicht ausgewiesen wurde, sondern - ganz im Gegenteil - vor ihr geflüchtet ist. Die Abiturientinnen dagegen flüchten vor ihren Prüfungen. Der Deutsche flüchtet vor den unerträglichen Zuständen auf dieser Welt zum IS. Irgendwie tritt jeder mit der Abfahrt des Zuges seine persönliche Flucht an und steht im Einzelnen für etwas, das einem mit großem Weltschmerz zurück lässt. Und gerade deshalb sind es wichtige Themen, von denen die jungen Schauspieler selbst aber teilweise noch nie etwas gehört hatten.

"Viele von den Jugendlichen haben nicht mal Monsanto gekannt", sagt Schwarz, "wir mussten viel erklären". Ihr Ensemble tritt deshalb in den nächsten Wochen vor allem an Schulen auf. Premiere ist am Freitag, 15. Juni (19 Uhr) im Caritas-Mädchenhaus in Gauting, danach geht es an verschiedene Schulen im Kreis Starnberg. "Bevor sie abgehen wollen wir ihnen zeigen, was passiert in der Welt", sagt Schwarz. Und es passiert viel: Glyphosat, Klimawandel, Menschenhandel, Aids, Drogen-Schmuggel, Schuldruck, Rechtsruck, der Zuschauer kommt kaum mehr zum Durchatmen. Doch es wird auch deutlich: Die Schüler werden viel mitnehmen. Zumal das Stück darauf bedacht ist, mit Klischees zu brechen. Einen Klischeebruch gibt es schon in der Besetzung: Die Rolle des Nazis spielt ein Dunkelhäutiger.

© SZ vom 14.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: