Starnberg:Schweizer Helden

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Ein Sextett, das nach mehr klingt: Hildegard Lernt Fliegen beim Auftritt in der Starnberger Schlossberghalle. (Foto: Georgine Treybal)

Der umjubelte Auftritt der virtuosen und witzigen Band "Hildegard Lernt Fliegen" bildet heuer den Auftakt der "All That Jazz"-Reihe in der Schlossberghalle Starnberg

Von Gerhard Summer, Starnberg

Auf der Bühne steht ein Sextett, aber dieses Sextett klingt eindeutig nach mehr. Ganz so, als wären gelegentlich acht Musiker im Spiel oder sogar zwei ineinander verzahnte Bands. Was in erster Linie mit Andreas Schaerers Vokalkunst zu tun hat. Er imitiert die gedämpfte Trompete, die unisono mit den drei Bläsern von Hildegard Lernt Fliegen mitspielt und die irrwitzigsten Läufe und Themen locker hinkriegt. Und er ist es auch, der mit Zunge und Gaumen die Percussion klackern und die Bass-Drum pulsen lässt. Das Schlagzeug ist nämlich verwaist, Drummer Christoph Steiner bedient gerade die Marimba.

Gelegentlich übernimmt Schaerer sogar drei Jobs auf einmal. In "Zeusler" (Schweizerisch für Zündler) imitiert er eine Vogelstimme samt Drums und singt simultan. In "Knock Code 3", einem Stück über den Einzähler, auf den keiner hört, kommt zu Gesang und Schlagzeug wieder die Trompete dazu. Und das Faszinierende an dieser dreistimmigen Akrobatik ist, dass gerade das Blechblasinstrument absolut echt klingt, ganz so, als wäre irgendwo ein Trompeter versteckt, der japsend zu den höchsten Tönen vorstößt und Quintolen und Quartolen auf den Punkt bringt.

Klar, ohne ihren Frontmann Schaerer, der wie ein listiger Lurch über die Bühne schleicht und alle Stücke komponiert, könnte Hildegard einpacken. Zumal der Berner auch ein witziger Moderator und ein exzellenter Sänger ist, der im Pop, an der Oper oder im klassischen Liedgesang anheuern könnte und mit seiner Kopfstimme in eine Höhe vorstößt, wie sie Sam Smith im James-Bond-Song "Writing's On The Wall" erreicht. Aber Schaerer solo, das liefe auf eine Zirkusnummer hinaus. Sensationell, aber eindimensional. Genau das will die Schweizer Band, die einen umjubelten Auftakt der "All That Jazz"-Reihe 2016 in der fast vollbesetzten Starnberger Schlossberghalle hinlegte, eben nicht.

Hildegard Lernt Fliegen liebt es nämlich, auf und mit möglichst vielen Ebenen zu spielen. Oft klingt das so, als würde sich die Band aus dem Scherbenhaufen der Musikgeschichte bedienen und die Bruchstücke kühn, aber sinnvoll zusammensetzen. In Schaerers virtuosen Stücken, die allein schon rhythmisch höchst verzinkt sind und alles durchdeklinieren, was es an Taktarten so gibt, finden sich sämtliche Spielarten des Jazz. Mal klingt das nach Gangster-Swing, mal nach Bebop, Jazzrock und Avantgarde. Genauso finden sich Elemente der Klassik. Wer will, kann aus dem Ostinato dieser Musik Anklänge an Ligeti, Schostakowitsch oder den Minimalisten Steve Reich heraushören. Und was den Wechsel zwischen aufbrausenden Passagen und ruhigem nostalgischen Schönklang betrifft, erinnern die Schweizer an die Metal-Band System Of A Down, mit dem Unterschied, dass die Kontraste weicher und die Übergänge viel organischer ausfallen. Auch hat Hildegard keine E-Gitarren dabei, sondern entwickelt ihren markant schneidenden Klang mit Posaune, Tuba, Saxofonen und Bassklarinette.

Dazu kommt noch, dass einige Songs hörspielartig kleine Geschichten erzählen. Das opernhafte "Don Clemenza" bezieht sich auf eine Figur aus Francis Ford Coppolas "Der Pate". "Pre And Post Sapiens" könnte ein Song für "Das fünfte Element" sein und spielt in einer postapokalyptischen Bar, in der sich der liebe Gott, Elvis, Che Guevara und andere treffen. Und in "O Rimse Kala Rimse" geht es um einen Sänger, der den Text vergessen hat und in seiner Not zu Fantasieenglisch greift.

Gelegentlich macht Hildegard Lernt Fliegen auch Kabarett und Dada. In der Ballade "Seldom Was Covered With Snow And An Old Oak" hackt der Drummer einen irren Rhythmus in eine alte Reiseschreibmaschine, am Ende zieht Schaerer das beschriebene Blatt aus der Walze und tut so, als ob er das Geschreibsel vorlesen würde: "Stimmrick upfdief leeguff fffstsklom, du bist. . ." Allmählich mischen sich erkennbare Wörter und Satzfetzen in das Gezische und Gebrabbel, bald meint man, einer Politikerrede zu lauschen, einer Unterrichtsstunde, eine Museumsführung. Als Schaerer noch eine quietschig hohe Stimme dazu mischt, scheint eine freundliche Dame im Reisebüro zu erklären, wie er am besten nach Starnberg kommt. Und dann verfällt der Mann in melodischen Singsang und die Band setzt ein. Wunderbar!

Wie diese mit allen Genres und Stilen jonglierende, zu Recht hoch gehandelte Truppe, die zeitgenössischen Pop im Vergleich zu läppischem Zeug degradiert, aber auch nicht als Dauerberieselung geeignet ist, beim angeblich so konservativen Starnberger Publikum ankommt? Immer wieder Applaus nach Solos, am Ende Ovationen. Die Leute waren von den Socken. Und Manfred Frei und Irina Frühwirt, die Erfinder der Jazzreihe, strahlten.

© SZ vom 08.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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