Starnberg:Angst vor dem Alltag

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Der Sozialpsychiatrische Dienst hilft Menschen in Lebenskrisen, die häufig in Armut geraten. Bei gemeinsamen Ausflügen schöpfen sie neue Kraft

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Starnberg

Die Angst kam buchstäblich über Nacht. Plötzlich war sie da, überfiel sie panikartig. Auf der Straße traf sie Menschen, die in der Realität gar nicht existierten. Nachts sah sie Männer vom Ku-Klux-Klan, die sie abholen wollten. "Innerhalb von einer Woche habe ich Ängste entwickelt, Todesängste, paranoide, schizophrene Gedanken", sagt Beate S. (Namen geändert). Auf die Idee, ärztliche Unterstützung zu holen, kam sie nicht. Auch die Hilfsangebote ihrer Familie schlug sie aus. "Ich wollte sie nicht hineinziehen." Stattdessen verließ Beate S. ihre Wohnung nicht mehr. Sie spülte vier Wochen lang kein Geschirr mehr. Sie trank ihren Kaffee aus schmutzigen Tassen, weil sie von der Angst wie gelähmt war. Die Wohnung verdreckte. "Ich konnte einfach nicht."

Irgendwann kam sie in eine Klinik. Weil sie es nicht schaffte, eine Krankmeldung an ihren Arbeitgeber zu schicken, verlor sie ihren Job, der Abstieg begann. Beate S. ist sich durchaus im Klaren darüber, dass ihre Ängste für ihre Mitmenschen nicht nachvollziehbar sind, das lähmt sie noch mehr. Es dauerte mehrere Jahre, bis "ich wieder wurde wie vorher", erzählt sie. Heute traut sie sich wieder vor die Tür. Sie hält Vorträge, um anderen Betroffenen Mut zu machen. Sie lädt sogar Freunde zum Essen ein. Das ist etwas, was für sie noch vor einiger Zeit unvorstellbar war. Beate S. ist stolz auf diesen Erfolg, den sie ohne die Unterstützung des sozialpsychiatrischen Dienstes des Evangelischen Diakonievereins Starnberg (SpDi) nie geschafft hätte. "Hier findet alles in einem geschützten Rahmen statt. Hier wurde ich angenommen wie ich bin", sagt Beate S.

"Es ist die Angst vor der Angst", erklärt Peter Pieroth vom SpDi. Das mache den Betroffenen am meisten zu schaffen. Im SpDi kommen sie einmal pro Woche zusammen, um sich auszutauschen und sich gegenseitig zu motivieren. Hier lernen sie, ihren Alltag trotz ihrer Ängste zu meistern. Für viele SpDi-Klienten ist es schon ein erster Schritt, wenn sie diesen festen Termin überhaupt einhalten können. Dadurch können sie sich eine Wochenstruktur schaffen. Das Schlimmste sei diese Leere im Alltag, erklärt etwa Fritz Z. Der feste Termin beim SpDi gebe seinem Alltag einen Sinn. Dafür nehmen die erkrankten Menschen große Anstrengungen auf sich. Wie ein Vater erzählt, schminke sich seine Tochter jedes Mal, wenn sie aus dem Haus geht, mindestens eine Stunde lang. "Sie braucht eine Maske."

Nach den Erfahrungen der zuständigen Psychologin Regina Klusch haben viele Betroffene eine soziale Phobie; das heißt, sie lassen nur ganz bestimmte Kontakte zu, beispielsweise nur in der Gruppe beim SpDi. "Alles andere verunsichert sie, erzeugt Ängste", so Klusch. Daher könnten sie oft nicht auf eine öffentliche Veranstaltung gehen. "Das ist von der Tagesform abhängig, manchmal klappt es, manchmal nicht." Ihre Aufgabe sei es, die Betroffenen zu motivieren, damit sie dranbleiben und nicht aufgeben. Deshalb ist es nach Angaben der Psychologin ganz wichtig, dass die Betroffenen Angebote vor Ort nutzen. Doch viele von ihnen können sich laut Pieroth nicht einmal eine Busfahrkarte leisten, um zu kommen. Eintrittskarten für Veranstaltungen seien finanziell nicht drin. Dafür hat der SpDi einen "Feuerwehrtopf", der jedes Jahr mit Spenden aus dem SZ-Adventskalender gefüllt wird. Damit könne man den Klienten schnell helfen, wenn sie etwa eine neue Waschmaschine benötigen. "Wenn die Leute saubere Wäsche brauchen, hilft die Beratung nichts", sagt Klusch. Knapp 4000 Klienten kommen jährlich zum SpDi. Die Spenden helfen denen, die wenig Geld haben, an Tagesausflügen der Gruppe teilnehmen zu können.

© SZ vom 10.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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