Dießen:Auf Bergtour mit Waisen

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Bernhard von Hoyningen-Huene erinnert sich an seine Zeit als Leiter des SOS-Kinderdorfs in Dießen, das am Samstag 60-jähriges Bestehen feiert. Ausflüge zu organisieren, gehörte genauso zu seinen Aufgaben wie Streitigkeiten zu schlichten

Von Christian Deussing, Dießen

Der einstige Leiter Bernhard von Hoyningen-Huene und seine Tochter Iris blättern im Erinnerungsalbum. (Foto: Nila Thiel)

Gespannt blättern Vater und Tochter an einem Gartentisch in Aidenried in einem Album mit vielen Schwarzweiß-Fotos. "Weißt du noch, wer das gewesen war?", fragen sich beide und versuchen, sich an die Situationen aus längst vergangenen Tagen zu erinnern. Es sind Bernhard von Hoyningen-Huene und seine Tochter Iris, die mit ihrem Bruder Anselm und der Mutter in einem ungewöhnlichen Umfeld aufgewachsen ist: im SOS-Kinderdorf in Dießen, das an diesem Samstag sein 60-jähriges Bestehen feiert. Es ist das älteste Kinderdorf in Deutschland, im Lauf der Jahre wurde es ständig erweitert.

Huene ist jetzt 77 Jahre alt und erzählt, wie sich die Einrichtung pädagogisch und konzeptionell weiterentwickelt hat. Er hatte das SOS-Kinderdorf am Ammersee von 1974 bis 1983 mit viel Herzblut und Engagement geleitet. Damals waren mehr als 60 Mädchen und Buben in zwölf Häusern wie in Familien betreut worden. Der Sozialpädagoge hat dies leidenschaftlich getan. Es sei aber manchmal schwierig gewesen, die Balance zwischen den beruflichen Aufgaben und der eigenen Familie zu halten. Denn im Umgang mit den Kindern, die oft ihre Eltern gar nicht kannten oder Waisen waren und aus zerrütteten Verhältnissen stammten, sei es schwierig abzuschalten. Huene musste nicht nur Erziehungspläne erstellen, Wander- und Zeltlageraktionen planen und mit Jugendämtern verhandeln, sondern auch in den Häusern schlichten und vermitteln, wenn es einmal Probleme gab.

So kam er einmal mit seiner Familie aus einem Griechenland-Urlaub zurück und war noch nicht aus dem geliehenen Wohnmobil ausgestiegen, als schon eine Kinderdorf-Mutter aufgeregt herbeieilte, um etwas dringend zu klären. Tochter Iris erinnert sich an diese Szene: "Kaum war die Grenze des Dorfes überschritten, war unser Vater schon weg." Gerade bei den Pubertierenden habe er "oft Feuerwehr spielen und auch vom Abendbrottisch häufig aufspringen müssen", erzählt Iris, die heute als Holzbildhauerin in Aidenried lebt.

In dem Hilfswerk habe sie "Mitgefühl mit den armen Kindern entwickelt", erzählt die 46-jährige Künstlerin und blättert zurück. Mit manchen Mädchen hatte sie sich damals angefreundet. "Doch so richtig gehörten wir als Mitglieder einer intakten Familie dann doch nicht dazu." Zudem habe man ein wenig privilegierter gewohnt, ergänzt Iris von Huene.

Am Tisch sitzt Iris von Huene sie in der Mitte. Als Dreijährige kam sie mit ihren Eltern in das SOS-Kinderdorf. (Foto: Nila Thiel)

Hierbei fallen ihrem Vater wieder die sehnsüchtigen Blicke der Zöglinge ein, als er mit seinen eigenen Sprösslingen und mit Skiern auf dem Autodach zu einem Ausflug das Kinderdorf verließ. "Das vergesse ich bis heute nicht, das hat mir sehr weh getan", sagt der ehemalige Leiter nachdenklich.

Doch Vorwürfe muss er sich bestimmt nicht machen. Der einstige Chef hat nämlich mit den Dorfkindern viele Bergtouren unternommen, Ferienlager veranstaltet, Naturschutzgruppen gebildet und eine Stubnmusi gegründet. Allerdings sei wohl in der gesamten Episode die Privatsphäre beeinträchtigt gewesen, glaubt die Tochter, und ihr Vater nickt. Er wollte seinerzeit wieder praxisnäher arbeiten und mit weniger Papierkram zu tun haben. So kündigte Hoyningen-Huene, der zuvor Entwicklungshelfer in Bolivien und Kreisjugendpfleger in Garmisch gewesen war, nach fast neun Jahren seinen Leitungsjob im Kinderdorf. Er habe seine Familie schonen und neue berufliche Perspektiven entwickeln wollen. Er studierte Montessori-Pädagogik und wurde Kinderhelfer und Musiktherapeut in Weilheim.

Heute ist das SOS-Kinderdorf neuer und moderner. (Foto: Nila Thiel)

Iris erinnert sich noch an eine "toll bemalte Dampfwalze" im Kinderdorf. Doch der TÜV musterte das große Spielgerät vor 15 Jahren aus. Seither steht die Walze auf einem Hofgut in Iffeldorf.

© SZ vom 09.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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